Ein Märchen von Kobold Kieselbart für alle Leseratten

Also, eigentlich - eigentlich hab ich ja jetzt alle Hände voll zu tun! Dem Christkindchen helfen, sein Mehlweibchen, den Bohlischbock, die Stoppelgans, den Benznickel und all die andern vom Odenwälder Weihnachtszug wiederzufinden... Im Zauberwald dafür sorgen, daß alle genügend Vorräte für den Winter eingelagert haben (die Eichhörnchen sind mal wieder recht nachlässig gewesen, weil es ja sooo viele Bucheckern und Eicheln gibt), - wie gesagt, eigentlich hab ich keine Zeit. Und jetzt muß ich mich auch noch drum kümmern, daß die Bücher in dieser Bibliothek hier nicht weiter angefressen werden.

Ich weiß schon, wer das mal wieder war: der Nagekäfer! Natürlich gibt es da auch noch Termiten, Staubläuse, Milben, aber das hier: das war der Nagekäfer. Rispelraspel knispelknaspel - er hat Bücher nämlich zum Fressen gern! Der Nagekäfer mußte letztes Jahr über das WeltWichtelWissen Nachricht vom Geburtstag der Brüder Grimm erhalten haben und dachte sich sicher: ah! 200 Jahre - das wird ein Genuß! Und schon erschnüffelte er die hochbetagten Schriften, drang durch eine Ritze ein in die Bücherstube und machte sich über den Leckerbissen her. Und als er so in Grimms Märchen stöberte, was denn wohl am leckersten wäre, stieß er auf ein Märchen, das unseren Märchenfreunden heutzutage sicherlich völlig unbekannt ist! Denn hastenichtgesehn, rispelraspel knispelknaspel - da war es um das Märchen geschehen. Nun ist es nur noch ein Häufchen Nagekäfer-AA. Ich aber, ich habe es gelesen, bevor der gefräßige Käfer sich drüber hermachte! Und wenn ihr ganz still sein wollt, so mucksmäuschenstill, daß man die Buchstaben auf den Buchseiten atmen hören kann, dann will ich euch das Märchen vom Bücherwurm erzählen.

Das Märchen vom Bücherwurm

Vor langer langer Zeit, noch bevor die Brüder Grimm einer nach dem andern das Licht der Welt erblickten, da lebte in Wolfenbüttel ein Bibliothekar. Gotthold Ephraim (so seltsame Namen hatten die Menschen jener Zeit nun mal) Lessing war sein Name. Der Erfinder der Bibliothekare war zugleich auch der erste Bücherwurm: er las und las und las, und beim Umblättern einer jeden Seite schnippte er die Läuse, Milben und Käfer über den Buchrand ins Verderben. Bald schon herrschte helle Aufregung in der herzoglichen Bibliothek, wenn nur sein markanter Schritt - denn ein bißchen eingebildet war er schon, der alte Gotthold Ephraim - vor den Türen des Bücherheiligtums erscholl. Einmal trat er sogar beinahe auf mich drauf, aber ich hatte ja damals auch eigentlich nichts dort zu suchen. Das ist eine andere Geschichte, und vielleicht bekommt ihr sie zu hören, wenn wir wieder zusammenkommen. Gotthold Ephraim also, der von allem Krabbelgetier gefürchtete Rächer der Bücher, putzte so ganz nebenbei beim Lesen Lesen Lesen sämtliche Bücher aus. Bald schon gab es eine wahre Völkerwanderung zu Wolfenbüttel: Bücherläuse, Nagekäfer und Staubmilben hatten ihr Ränzlein gepackt und zogen rispelraspel knispelknaspel zum Tor hinaus. Ob sie jemals zurückgekehrt sind?

Davon weiß man zu Wolfenbüttel heut nichts mehr, auch Gotthold Ephraim schweigt sich drüber aus. Ich aber hörte und sah so heimlich aus meinem Winkel einiges, was heute nun endlich einer Klarstellung bedarf. Denn die Menschen, vor allem die Belesenen, die nannten Gotthold Ephraim bald nur noch „den Bücherwurm“. Und er, nun - eitel war er auch noch - er ließ es sich gerne gefallen, schrieb gar bald eine Geschichte darüber und vergaß sie dann in einem Buche, wo sie steckenblieb. Gemeinsam mit dem Buch (des Titels erinnere ich mich nicht) gelangte sie auf verschlungenen Pfaden nach Steinau an der Straße, und dortselbst verbrachte sie im Schutze ihres Buches ungewissen Titels viele Jahre im Regal. Bis eines Tages - ihr ahnt es schon! - ein Mensch ans Bücherregal trat und gerade dieses Buch herauszog. Zuerst nahm er es behutsam in die Hand, schnupperte ein wenig daran, atmete den bedeutungsschweren Staub der Zeiten ein. Endlich, er hatte sich feierlich an seinen Schreibtisch gesetzt, zuvor einen Berg Zettel von hier nach da, einen Stapel Bücher von da nach hier geräumt, endlich also schlug er den Deckel auf.

Da fing eine Zeichnung im Exlibris (ihr wißt hoffentlich, was ein Exlibris ist?) an zu zappeln, sie ruckelte und zuckelte und kam endlich frei. Behände sprang sie von der Seite in die Höhe, wand sich nach rechts und nach links, vergaß auch nicht nach hinten zu schauen und wuselte schließlich aus dem Buch heraus. Das aber war niemand anderes als der tatsächliche Bücherwurm!

All die vielen Jahre hatte er in jenem Buch unbekannten Titels geschlafen wie einst Dornröschen in seinem Schloß. Endlich aber hatte Jacob Grimm - denn kein anderer war’s der das Buch in seiner Jugendzeit zu Steinau geöffnet hatte - ihn zu neuem Leben befreit. Und wie freute sich der Bücherwurm! Fröhlich wimmelten seine vielen Beinchen, die eine Hälfte rechts und die andere Hälfte links von seinem Ringelkörper, von Buchrücken zu Buchrücken, stöberte in den Stapeln auf Grimms Schreibtisch und ließ sich endlich in einem Heft nieder, das ihm gemütlich erschien. „notizen“, stand darauf, in einer akkuraten säuberlichen Handschrift. „Nun,“ dachte sich der Bücherwurm, „so will ich denn fortan in den notizen dieses Mannes leben“ - (ihr müßt wissen, jener Jacob Grimm pflegte alles klein zu schreiben, auch seine notizen! Ja, die Menschen sind schon seltsam...).

So geschah es, ohne daß auch nur ein Mensch etwas davon gemerkt hätte. Ich aber, ich hatte es wohl bemerkt - doch ich schwieg fein still. Fortan mußten die Bücher im Hause Grimm nicht länger mehr unter Staubmilben, Nagekäfern und Bücherläusen leiden. Denn der Bücherwurm hielt alles reinlich und in guter Ordnung. Was aber dem guten Jacob eines Tages auffiel, das war ein Zettel in jenem Buche, von dem wir nicht wissen wie es heißt und wer es einst geschrieben. Mit Spannung las er, was dort geschrieben stand. Bald schon erhellte ein schelmisches Lächeln sein junges Gesicht, und er stürzte aus der Stube. „Wilhelm, Wilhelm! Schau nur, was ich gefunden habe!“ Und beide Brüder, der träumerische Wilhelm und der zettelbesessene Jacob, hockten bis spät in die Nacht über jenem Zettel, auf den vor langer Zeit unser Gotthold Ephraim seine Geschichte vom Bücherwurm notiert hatte. Heimlich im Regal, verborgen zwischen Klopstock und einer Kladde voller Zettel, beobachtete der Bücherwurm genau, was die Brüder sich dort gerade erdachten.

Nun wollt ihr sicher auch wissen, was es denn war, was sie erdacht! Tja, das ist so eine Sache; denn man weiß es nicht.

Ich war an jenem späten Abend schon ins warme Bettchen gehuscht, der Bücherwurm verrät weiters kein Wörtchen als das, was bis hierher berichtet werden konnte; die Brüder, so schreibfreudig sie auch sonst waren, verloren kein Tröpfchen Tinte darüber ... Kurz gesagt, niemand weiß es. Auch jener Zettel vom Gotthold Ephraim ist und bleibt verschwunden. Möglich wär’s, daß das Fenster offenstand, denn es war ein lauer Frühsommerabend. Möglich auch, daß die Geschichte vom Bücherwurm aus dem Fenster flatterte, gerade als die Brüder den Entschluß faßten, fortan Märchen und ähnliche Geschichten zusammenzutragen. Und gut möglich, daß unten auf der Straße all die vertriebenen Staubmilben, Bücherläuse und Nagekäfer in jener Nacht ein Festmahl hielten... Rispelraspel knispelknaspel!

So, und nun ist Schluß mit Geschichtenerzählen, klappt eure Münder nur wieder zu! Wenn ihr könntet, so dürftet ihr das Märchen ruhig lesen, das die Brüder Grimm aus jenem Zettel einst erdichteten. Doch ach, nicht nur der Zettel, nein auch ihre Geschichte fiel den gefräßigen Klauen des Nagekäfers anheim. Nichts, auch kein Fitzelchen davon, blieb bestehen. Rispelraspel knispelknaspel! Euch bleibt nur, dorthin zu gehen, wo der Bücherwurm heutigentags zuhause ist: ihr denkt es euch sicher schon - es sind die Büchereien, die Buchgeschäfte und Bibliotheken, besucht ihn dort nur einmal, vielleicht trefft ihr ihn ja und vielleicht seid gerade ihr die ersten, denen er den Rest der Geschichte erzählt...

Es grüßt euch aus dem winterlichen Zauberwald Euer Kieselbart!

(Marieta Hiller, anläßlich der Bibliotheksausstellung im Wildpark Knüllwald 2013 „Wir haben Grimm zum Fressen gern“)