Einst vor vielen vielen Sommern lebte im Odenwald ein armer Köhlerssohn, dem die Lust am Kohlenmeilerbewachen abhanden gekommen war. Ja eigentlich ist noch nicht einmal sicher, ob er dazu überhaupt je Lust gehabt hatte. Jedenfalls schnürte er eines schönen Tages im Spätsommer sein Ränzlein, nahm den dicken Wanderknüppel des alten Köhlers und drückte seiner Mutter zum Abschied einen dicken Kuß auf die Wange, bevor er sich auf Wanderschaft begab.

Drei Tage stapfte er durch den Wald, drei Nächte schlief er im Dickicht, da entdeckte er eines Morgens ein Kästchen. Mitten auf seinem Weg durch das reife Gras einer Lichtung wäre er beinahe darüber gestolpert. Hoppla, dachte er. Was für ein hübsches Kästchen! Das bringe ich der Mutter mit. Doch zuerst schaue ich hinein, was denn wohl darinnen sein könnte... Jedoch, das Kästchen war verschlossen, und der Köhlerssohn konnte ziehen, drücken, schütteln und schimpfen – das Kästchen blieb auch verschlossen. Ein Schlüssel müßte dazu zu finden sein, dachte er. Und schon flötete ein Rotkehlchen vom Baum: „Schlüsselchen hie! Schlüsselchen hie!“ Wie der Köhlerssohn nach oben schaute, sah er es gülden zwischen den Zweigen hindurch glitzern, und ein Schlüsselchen von feinstem Gold fiel zu seinen Füßen hin.

Geschwind bückte er sich, hob das Schlüsselchen auf, steckte es ins Schloß vom Kästchen, drehte es herum, und dann... Dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis das Kästchen geöffnet war und wir dem Köhlerssohn über die Schulter schauen konnten, was denn wohl darinnen sei! Ein goldgelb glänzender, süß duftender Apfel lag darinnen, so frisch und saftig, als sei er eben noch am Baum gehangen – doch weit und breit ließ sich im dunklen Wald kein Apfelbaum sehen!

Der Köhlerssohn freute sich, denn er hatte großen Hunger – der war eigentlich sein ständiger Begleiter, solange er denken konnte! Sogleich biß er herzhaft hinein in den Apfel, und ein großes Stück verschwand in seinem Mund. Doch da begann es mit feinen Stimmchen zu zetern und zu schimpfen! Mitten aus dem guten Apfel heraus tönte es fein und glockenhell: „was fällt dir ein! Unsere Stübchen aufzubrechen? Uns Bübchen die warme Hülle zu nehmen? Sag uns einen guten Grund, sonst sollst du verwünscht sein, alle Tage bis zu deinem Ende in diesem Wald herumzuirren!“ Da erschrak der Junge und rief: „Hunger hatte ich! Und der Apfel sah so gut und nahrhaft aus. Aber ich wollte euch nicht um eure Stübchen bringen!“

Denn schon seine Mutter hatte ihm in früheren Tagen immer die Geschichte von den fünf Bübchen in ihrem warmen Stübchen erzählt, die irgendwann einmal hinaus in die weite Welt wollten. Und nun war er selbst in die weite Welt gezogen, und auf einmal vermißte er die Mutter sehr. Die Bübchen zwitscherten mit ihren feinen Stimmchen: „so sei es dir verziehen. Hunger ist ein schlimmer Berater, und du bist fern vom Mütterlein – gerade so wie wir! So iß denn auch den Rest unseres Apfels noch auf, aber eine Bedingung haben wir doch!“ „Nun, so sagt mir gleich, welche das ist, dann will ich alles so halten wie ihr es euch wünscht,“ sprach der Köhlerssohn.

„Steck uns alle fünf in deine Tasche, halt uns trocken und warm, und wenn du einst nach Hause kommst, so leg uns flugs in die schwarze Erde und gib uns zu trinken. Dann sollst du niemals mehr Hunger leiden.“ Der Köhlerssohn verwahrte die Bübchen wohl und stapfte gestärkt drei Tage und drei Nächte zurück zu Mutter und Vater und dem Kohlenmeiler. Der Vater schimpfte, daß er unverrichteter Dinge zurückgekehrt sei, die Mutter herzte ihn. Er aber nahm die fünf Bübchen aus seiner Tasche und legte sie im Garten mitten hinein in das Blumenbeet der Mutter.

Und was glaubt ihr wohl, was geschehen ist? Kaum war der Winter ausgezogen, da wuchs im Beet ein Apfelbäumchen, es wuchs und wuchs, und als der Köhlerssohn alt genug war, um in die Welt hinauszuziehen, da hingen tausendundein güldenes Äpfelchen daran – so köstlich, wie noch niemand je gekostet hat. Auch du und ich wohl sicher nicht. 

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Schlußversion 2: Der Junge aber tat wie ihm geheißen, und seit diesem Tag fand er jedesmal, wenn er das goldene Schlüsselchen im Schloß des Kästchens drehte, einen neuen goldenen Apfel darin. Die werden herangeschleppt von der Schnecke und dem Rotkehlchen, geradewegs von jenem Apfelbaum dort drüben – schaut nur genau hin! Marieta Hiller, 2013