In den Onlinebriefen des Verschönerungsvereins Reichenbach erschien 2015 ein mehrteiliger Beitrag von Heinz Eichhorn über das Kriegsende in Reichenbach. Da die Onlinebriefe leider nicht mehr online sind, veröffentlichen wir an dieser Stelle diesen Beitrag.

Im letzten Kriegsjahr kam es in Lautertal zu mehreren Abschüssen von Militärflugzeugen oder zu Notlandungen, wie hier auf der Höhe zwischen Lautern und Brandau. Repro Heinz Eichhorn
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Zwei Tote gab es vor dem Einmarsch der amerikanischen Armee vor 70 Jahren in Beedenkirchen. Wie der evangelische Pfarrer Rudolf Wintermann in seinem jetzt wieder entdeckten Tagebuch schreibt, wurden ein
amerikanischer Soldat auf der Flucht sowie der Schmal-Beerbacher Bürgermeister Beutel erschossen.
Eigentlich wollte Pfarrer Wintermann am Palm-Sonntag 1945 in Darmstadt predigen. Aber er kam nicht in die Stadt, „die Partei hatte sie verbarrikadiert“, schreibt er. Außerdem wollte er gerade jetzt die Gemeinde nicht verlassen. „Die Leute waren überall in Unruhe, die tollsten Gerüchte gingen um“. Deshalb hatte er auch zwei Tage vorher für diesen Tag in Beedenkirchen Konfirmation angesetzt. Am Freitag, 23. März, wurde der Volkssturm einberufen, mit ihm auch der Vater des Konfirmanden Willi Reimund. „Aber der Volkssturm war am Abend schon zurückgekehrt, weil keine Uniformen da waren, sie seien gestohlen worden‟.
Morgens um halb sieben Uhr zog Wintermann von Reichenbach los nach Beedenkirchen. Der erste, der ihm in Beedenkirchen über den Weg lief, war Glöckner Roß: „Herr Pfarrer, es ist keine Konfirmation. Das ganze Pfarrhaus ist voll Soldaten. Die Frau Pfarrer Haugen hat's auch gesagt.‟ Ich brüllte ihn an: „Herr Roß, wer ist hier der Pfarrer, Sie oder Frau Haugen oder ich? Ich bestimme, ob Konfirmation ist oder nicht. Kommen Sie mit!‟ Im Pfarrhaus ließen sich zwölf Soldaten verpflegen, die aber wohl kaum mehr an Kampf dachten. „Die Frau Pfarrer, eine tapfere, resolute und feine Frau, Witwe, deren Mann im Juli 1943 gefallen war, eine Frau, die Herz hat und wirklich Pfarrfrau ist, hat nichts gesagt. Nur ihrem Jungen, Helmut, der mich empfängt mit den Worten: „Aus unserm Keller wird geschossen‟, hat sie eine Ohrfeige herunter gehauen. Ich sage dem Glöckner: „Also, Herr Roß, es wird konfirmiert.‟

„Herr Pfarrer, ich laufe nach Haus zu meiner Familie.‟
„Laufen Sie nur, Sie Bankschisser, dann läute ich selbst.‟ Ich war dann noch bei zwei Konfirmanden-Eltern, ruhige Leute. Sie waren ganz meiner Meinung. Ich habe dann noch einmal vorgeläutet. Mit einer Viertel-
stunde Verspätung begann ich das eigentliche Läuten. Frau Schwinn, eine feine, tapfere Bauernfrau, nahm es mir ab. Talar angezogen und dann durch die Kirche eingezogen. Allgemach spazierten dann auch noch unsere zwei Kirchenvorsteher, die sich aufgerafft hatten, heran. Schließlich auch noch der Glöckner, während der Bälgetreter ausblieb. Auch Gemeindemitglieder waren wenig da. Außer den Konfirmanden mit Angehörigen und wenige tapfere und gläubige Seelen. Aber dann verlief die Konfirmation ungestört in aller Ruhe. Die Kinder und die Gemeinde waren wirklich dabei. Und vielleicht schreibt sich das Erleben dieses Tages tiefer in ihre Seelen, als wenn es eine „Friedenskonfirmation‟ gewesen wäre mit dem, was alles an Unnötigem ganz dazugehört.“

Nach der Konfirmation hörte die Kirchengemeinde die ersten amerikanischen Panzer, die eine Rundfahrt von Ober-Ramstadt über Nieder- und Ober-, sowie Schmal-Beerbach, Wurzelbach, Allertshofen, Hoxhohl, Ernsthofen, wieder nach Ober-Ramstadt gemacht hatten. Sie sah auch den Staub, den sie aufwirbelten, und dachte, dass sie jeden Augenblick nach Beedenkirchen kämen, doch sie ließen es bei dieser Demonstration bewenden.

In Beedenkirchen hielt Pfarrer Wintermann (rechts) dann noch zwei Taufen, mittags sogar noch eine Trauung. Er besuchte noch sämtliche Konfirmanden in ihren Häusern und „erlebte so alle Grade der Kriegsspannung, der Müdigkeit und der Begeisterung, der Furcht und der richtigen Geborgenheit mit“. Zwei Tote brachte dann der Tag doch noch, einen Amerikaner und den Bürgermeister Beutel von Schmalbeerbach. „Mittags ging das Gerücht, es seien zwei Amerikaner im Dorf und suchten nach Waffen. Sie seien in der Wirtschaft Speckhardt. Bald tauchten dann sechs von unseren Soldaten auf von der
Gruppe, die sich auf dem Rücken zwischen Reichenbach und Beedenkirchen gesammelt hatte und suchten nach den Amerikanern. Sie fanden ihren Panzer in Wurzelbach, sprengten ihn, fanden dann auch die Amerikaner, einen nahmen sie gefangen, den anderen, der flüchtig ging, erschossen sie.“
„Als sie mit dem Gefangenen in einem Raum in Schmalbeerbach waren, kam der Bürgermeister Beutel herein, ging aber gleich wieder heraus. Da sie ihn für einen anderen, nämlich den „Kölner‟ hielten, schossen sie auf ihn und trafen ihn tödlich. Dieser „Kölner‟, Schmitz mit Namen, ein widerwärtiger Geselle, hat sich in Schmalbeerbach eine Baracke gebaut und machte Lastautofahrten. Er freundete sich mit der SS an, fuhr auch deren Waffen an den Platz am Friedhof, wo sie weggeworfen wurden. Dafür rückte dann die SS mit seinem Auto ab.“
 
„Dann aber biederte er sich mit den Amerikanern an, zeigte ihnen den Waffenplatz und wurde so zum Verräter. Als ihm die Luft zu mulmig wurde, wechselt auch er wieder Beutel musste für ihn sterben. Er ist in Oberbeerbach beerdigt, der Amerikaner in Beedenkirchen.“
Abends, als es dunkel war, kam Pfarrer Wintermann ungehindert zurück nach Reichenbach. Dort war alles noch „ruhig‟. Die US-Amerikaner sollten erst am Dienstag, 27. März, nachmittags in Reichenbach einmarschieren.
 
Einige Fanatiker meinten auch noch am 27. März 1945, wenige Tage vor Kriegsende, den US-Amerikanern Widerstand entgegensetzen zu müssen. Die Folge: Die US-Armee wurde einen Tag aufgehalten und
in Gadernheim starben neun Zivilisten und drei Soldaten einen sinnlosen Tod.
Einer der ersten Lautertäler, der die Amerikaner kommen sah, war Mario Rheinfurth (Bild links). Der Sohn des Reichenbacher Pfarrers, späterer Physiker und Mitarbeiter von Wernher von Braun in den USA, war zum Besuch bei seinem Großvater in Schönberg. Dort hörte er schon die aus Bensheim heranrückenden Panzer und wollte mit seinem Fahrrad noch schnell nach Hause.
Doch am Steinmetzbetrieb Dassel kurz vor Wilmshausen holten ihn die Truppen ein. Der Lenker des vorausfahrenden Jeeps hielt ihn an und fragte nach dem Woher und Wohin. Als er in seinem noch nicht
ausgereiften Schulenglisch sein Problem schilderte, durfte er sich mit dem Fahrrad an den Jeep hängen. Doch am Ortsausgang von Wilmshausen kam es zu einem „Scharmützel“ mit einigen versprengten deutschen Soldaten. Rheinfurth suchte mit seinem Fahrrad hinter dem ersten amerikanischen Panzer Deckung vor deutschen Kugeln.

In Reichenbach sah Else Roth aus ihrem Haus am Dorfeingang die US-Truppen kommen. Die heute (2015) knapp 92-jährige, die kürzlich noch ein Folk-Konzert ihres Sohnes in Winterkasten besuchte, erinnert sich noch genau an diesen Dienstag, auch weil sie viele Details fein säuberlich in ihrem Tagebuch festgehalten hat.
„Es waren lange Tage, als wir wussten, dass sie kommen und doch nicht wussten, was wird“, beschrieb sie die Zeit vor dem Einmarsch. Dieser kündigte sich durch Artilleriebeschuss an.
Zum Glück für die Reichenbacher zielten die Amerikaner nicht so genau. Nur das Elternhaus zweier Gründungsmitglieder der örtlichen NSDAP in der „Straße der SA“ wurde stark beschädigt.

Menschen hat der Beschuss keine gefordert, unser Dörfchen steht Gott sei Dank noch“, schrieb Else Roth in ihr Tagebuch. Dies auch, weil nach Wilmshausen ebenfalls die am Kernberg liegenden deutschen Soldaten schnell in die Flucht geschlagen werden konnten.
Das war in Gadernheim nicht so. Dort leistete eine Gruppe von Soldaten Widerstand. Um den zu brechen, zogen die Amerikaner sechs Artillerie-Kanonen auf der Nibelungenstraße, dem TSV-Sportplatz, Falltorweg und Kernberg auf. Die US-Soldaten wurden in den besetzten Häusern der Familien Roth, Mink, Knaup, Pappert, Dr. Baunach und Laut einquartiert. „Wir haben es gut getroffen“, schrieb Else Roth in ihr Tagebuch, „vier Mann schlafen in der Scheune auf Stroh und auch sonst können wir nicht klagen.“
Nach dem Beschuss Gadernheims die Nacht hindurch war am nächsten Morgen der Widerstand gebrochen, neun Menschen starben, die amerikanischen Truppen zogen weiter in den Odenwald. Wenige Tage später kam dann die Nachhut „mit vielen Fahrzeugen und Soldaten“. Auch jetzt wurden wieder die ersten Reichenbacher Häuser besetzt, ihre Bewohner mussten sie verlassen und bei Verwandten oder Bekannten unterkommen.
Die Zentrale der US-Truppen im Tal war dann über drei Monate hinweg das Gasthaus „Zur Traube“. Von dort aus wurden die neuen Bürgermeister der Dörfer im Lautertal bestimmt und
eine „Großbürgermeisterei Reichenbach“ eingerichtet. Sie war in den Anfangsjahren verantwortlich für die einzelnen Dörfer, deren Zusammensetzung nahezu identisch war mit der späteren „Großge-
meinde Lautertal.“