Vor vielen Jahren, am Abend des Gründonnerstag, bei Vollmond, erzählte ich dieses Märchen auf der Burg Lindenfels. Dazu habe ich ein altes Märchen aus Niederdeutschland umgedichtet:
Es trug sich aber vor vielen vielen Jahrhunderten zu - auf einer Burg aus guten harten Steinen, in deren Hof eine alte Linde stand. Viel hatte die Linde schon gesehen in ihrem Leben, und viel könnte sie uns heute erzählen - wenn es sie noch gäbe... Doch ach, schon lange steht sie nicht mehr. Selbst die Großmutter konnte sich nur noch ganz schwach an Frühlingstage der Kinderzeit erinnern, als das Sonnenlicht zwischen den hellgrünen Blättern flirrend umherirrte. Stünde sie noch, so könnte die Linde uns diese Geschichte selbst erzählen. So aber muß ich ein bißchen aushelfen.
Längst steht schon wieder eine junge kleine Linde an ihrem Ort, doch die ist des Erzählens noch nicht so mächtig, und ich bin nicht sicher, ob ihr alle die Linden-Babysprache verstehen könnt! Nun denn, so will ich mit der Geschichte beginnen: einst, vor vielen vielen Jahrhunderten - das sagte ich ja bereits - trug es sich zu, daß ein junger Drache aus seinem Ei schlüpfte, gerade als der Ostermond voll wurde. Ihr müßt wissen, daß Drachen in den allermeisten Fällen zum Ostervollmond schlüpfen. Jedenfalls taten sie das in früheren Zeiten. Heutigentags schlüpft kein Drache mehr, nicht zum Ostervollmond und auch nicht in anderen Nächten, und schon gar nicht am hellichten Tag!
Und das kam so: unser Drache, nennen wir ihn Estra, denn er war ein Mädchen, und Estra bedeutet Ostern. Unsere Estra also war emsig beschäftigt, die Eierschale aufzubrechen und sich Stück für Stück herauszuarbeiten. Gerade als sie ihren linken Flügel ausstreckte, damit die Falten sich glätten sollten, da drang ein übles Geschimpfe an ihr Ohr: „Du stacheliges Vieh, schon wieder hast du mich überlistet! Na warte!“
Als Estra ihren schuppigen Hals über die Burgmauer streckte, da sah sie unten in der Vorburg auf dem Gras einen erbosten Hasen, der fäusteschwingend auf einen Igel einschimpfte. Der Igel aber lachte den Hasen aus. Dann stapfte der Hase davon, hocherhobenen Hauptes, bog um die nächste steinerne Ecke und ward für ein paar Tage nicht gesehen. Doch kaum war der Mond vom Nachthimmel verschluckt und kam schon als sich rundender Mond wieder, da tauchte der Hase wieder auf. Estra reckte verwundert den Hals, denn er kam nicht allein. Hatte er am Ende vom Igel gelernt, wie man zu zweit eine Aufgabe zu seinem Vorteil erledigen konnte?
Doch nein, nicht zu zweit kam der Hase! Sieben junge Häschen hoppelten hinter ihm her! Das gefiel dem Igel und seiner Frau natürlich überhaupt nicht, denn die kleinen Häschen sahen zwar niedlich aus, waren aber auch verdammt schnell. Und nachdem sich der Igel und seine Frau fünfmal lzur Vollmondzeit abgehetzt hatten, um als erster am Ziel zu sein, wie die Wette galt, da wurde es dem Igel zu bunt. „Du dämliches Langohr - du schummelst ja!“ Doch da hatten die sieben jungen Hasen ihrerseits schon sieben mal sieben kleine Häschen dabei, und dem Igel wurde angst und bang. Da half keine List mehr, die Hasen waren einfach in der Überzahl. Wurde einer mal müde vom schnellen Laufen, schwupps so sprang schon der nächste ein. Auf diese Weise haben übrigens die Hasen einst den Staffellauf erfunden, der heute eine olympische Disziplin ist.
Dem Igel taten die Füße weh, und seine Frau lag ihm in den Ohren: „ich kann nicht ständig wegen deiner blöden Wette draußen rumlaufen, da ist auch noch die Küche, und die Wäsche, und die Kinder, und weißt du wann ich das letzte Mal shoppen war?!“ Da erdachte sich der Igel abermals eine List, aber es war keine nette! Er nahm seine Stacheln ab und steckte sie in die Ackerfurche, gerade dort, wo Familie Hase emsig mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war. Bald schon hörte man die ersten Schmerzensrufe, als das eine oder andere Häschen einen Stachel in der Pfote hatte. Und schon waren alle sieben mal sieben plus Chefhase mit Stacheln lahmgelegt.
Der Igel rieb sich die Hände und sprach zu seiner Frau: „du kannst dir Zeit lassen, aber tu mir den Gefallen und geh noch ein einziges Mal ans Ende der Furche, tu es weil du mein treusorgendes Weib bist.“ Da ließ sich die Igelin erweichen und stapfte zum Ende der Furche, wo sie ihren langgeübten Spruch aufsagte: „ich bin schon da!“
Woraufhin - der Ostervollmond jährte sich - ein ohrenbetäubendes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter anhob. Sieben mal Sieben plus ein Hase hatten ein ganz ansehnliches Repertoire an Schimpfwörtern, ihr glaubt es nicht! Und diese Schimpfkanonade ging nun auf Familie Igel nieder, und dabei blieb es nicht: schon flogen die ersten Hasenköttel Richtung Igelhausen, und Igelstachel wurden aus Armbrüsten gen Hasendorf geschossen.
All dies betrachtete sich Estra ungläubig, denn sie war ja noch jung. So ein Drache ist sieben mal sieben plus ein Jahrhundert ein Kleinkind, das die Welt aus großen Augen bestaunt, und es dauert weitere sieben mal sieben plus ein Jahrhundert, bis sie ins Grundschulalter kommen und die einfachsten Dinge der Welt begreifen. Vielleicht sind Drachen aus diesem Grunde einfach zu langsam für unsere schnelle Welt. Doch Estra, so jung sie auch noch war, begriff eines ganz klar: dort entbrannte ein Krieg, und Krieg war nicht gut. Denn die Weisheit wird den Drachen in die Wiege gelegt, und schon als Babydrachen sind sie fähig, salomonisch kluge Sprüche zu tun.
Und deshalb beschloß Estra, diesen Krieg zu beenden. Sie verkroch sich in ihr Drachenei, weinte ein paar große salzige Drachentränen, die sogleich tief in die Erde sanken, wo sie zu funkelnden Kristallen wurden. Aus ihrem Ei heraus grollte Estra heraus: „ihr streitendes Wiesenpack! Ihr seid schuld, daß ich weinen muß! Deshalb bleibe ich jetzt hier in meinem Ei, bis die Welt ein friedlicher Ort geworden ist, und niemand, nicht Hase, nicht Igel und nicht Mensch (was Estra eigentlich mit uns Menschen hatte, weiß ich nicht...) soll mich vorher wieder zu Gesicht bekommen! Ihr beiden aber, ihr sollt verwunschen sein, bis ihr Frieden schließt: dir Igel und deiner Frau sollen die Beine krumm und kurz werden, so daß du mühsam deinen dicken Bauch über den Boden schieben mußt. Und du Hase sollst voller Furcht leben, dich ständig umschauen und auf der Flucht sein, und auch die Deinen!“ Nach dieser langen Rede schlief Estra erschöpft in ihrem Ei ein, und dort ruht sie noch heute, und wir dürfen sie nicht wecken.
Marieta Hiller, Ostervollmond 2013