Wo einst die Menschen herkamen und wer das verzapft hat...
Kobold Kieselbart berichtet aus uralten Zeiten, als es noch keine Menschen auf der Erde gab - wohl aber ein Gebirge im Odenwald, und eine seltsame Spur, die nach Afrika führt... Die Geburtszeit unserer Heimatgebirge liegt im Zechstein. Da gab es ein ganz besonderes Erz. Ihr nennt das was wir 'den blaugrauen Eisenhärter' nennen, Zechstein-Mangan-Erz. Inzwischen habt sogar ihr Menschen herausgefunden, daß man damit besten Stahl herstellen kann. Es ist genau zu jener Zeit entstanden wie unsere Gebirge. Bevor sie sich aus dem wütenden Vulkangebrodel erhoben hatten, lebte unser Volk, wie auch die Zwerge, Gnome, Irrlichter und Elfen, fernab der feuerspeienden Berge hoch droben im Norden, wo es sogar Trolle gibt. Dorthin hatten sich die Kleinen Leute in Sicherheit gebracht, als das hier so richtig losging. Ewig lange Zeit wohnten wir dort in Kälte und Dunkelheit, wo das Polarlicht über endlosen Eiswüsten flammt. In tiefen blauen Eishöhlen weit drunten unter der Oberfläche der Erde hatten es sich die Familien des Kleinen Volkes bequem gemacht. Warm und kuschelig war es dort, und unter Bergen von abgeschnittenem Zwergenhaar lagen die Koboldkinder geborgen im Dunkeln und lauschten von früh bis spät den Geschichten der Alten. Kobolde hören furchtbar gern Geschichten, und wenn grade nichts zu erzählen ist, dann denken sie sich neue aus. Auch über die Welt und die Naturgesetze denken sie viel und lange nach. So wurden die Kobolde zu dem was sie sind: klug und weise. Das Dunkel schärfte unsere Sinne: bald konnten wir hören, wie die Felsbrocken in den sonnendurchglühten Wüsten am Bauch der Erde knackten; wir sahen, wenn auf der andern Seite der Welt Schneeflocken aufs eisige Wasser rieselten, und unsere feinen Näschen erspürten einen saftigen Zwergsaurierbraten überall, selbst wenn er im fernen Tasmanien über einem Buschfeuer brutzelte. So ließen wir es uns dort im tiefen warmen Dunkel der Eisgrotte gutgehen. Die Jahre dort waren gemütlich, aber sie waren auch lang. Denn nach der Vulkanzeit wurde es nicht besser: Sandstürme fegten über die neuen Gebirge hinweg und ließen alles Wasser vertrocknen. Wüste, Sand und wieder Sand und Wüste - nein, das war nichts für uns. Dann begann es zu regnen. Etwas später erhoben sich die Alpen. Dabei drückten sie mächtig auf unsere Gebirge, und die alten Schollen zerbrachen. Es war warm und feucht, und das war die Zeit, als die Riesen im Odenwald nur so zum Spaß zahlreiche Felsenmeere machten.
Zu jener Zeit geschah das, was ich euch eigentlich erzählen will.
Die Kunde von den ruhigen, warmen und pflanzenreichen Zeiten war uns vom Kleinen Volk natürlich nicht verborgen geblieben. Die endlos langen Jahre drunten in den Eisgrotten schienen jetzt vorbei: die Sonne schien warm, und die Erde bebte nicht mehr. Alles war friedlich. So krochen wir aus unserem Lager von Zwergenhaar hinauf in den wärmenden Sonnenschein. Wie ihr wißt, gibt es auch hoch droben im Norden Tageslicht. Nur sind dort die Tage - und die Nächte auch - viel länger als an jedem andern Ort auf der Erde. Ein halbes Jahr Tag, ein halbes Jahr Nacht - das gibt es sonst nirgends, außer am Südpol, aber wer will dort schon hin! Und so ein Tag, so ein richtig herrlicher Tag mit Sonnenschein, der herrschte gerade zu der Zeit, als all die Gnome, Zwerge, Elfen und Kobolde an die Oberfläche der Welt zurückkehrten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Gestank da über die Eisfelder wehte! Tausende von Wichten klopften ihre muffigen Kleider an der Sonne aus und kämmten ihre langen eisgrauen Bärte durch. Die Nester aus Zwergenhaar wurden hinauf geschleppt und gründlich gelüftet, ehe sie zusammengerollt auf die vollgepackten Rucksäcke geschnallt wurden. Schon marschierten die ersten Familien gen Süden, voller Vorfreude auf die herrlichen Blumen und die wohlschmeckenden Tiere. Auch ich war bald reisefertig, und meine Verwandten versammelten sich schon. Und Hibbel-di-dibbel-di-rumbel-di-bum! machte es, da waren wir hier im Odenwald. Ja meint ihr denn, so ein Kobold müßte mühsam über Stock und Stein wandern? Tag um Tag, Woche für Woche, bis er endlich an das große Wasser kommt und dann nicht weiß, wie er drüber kommen soll? Nein! So ist das bei uns beileibe nicht. Dieses Vergnügen habt ihr Menschen glücklicherweise für euch ganz alleine. Wir Kobolde, wir stellen uns einfach genau die Gegend vor, wo wir hinwollen, dazu das Zauberwort, und schon sind wir dort. Das funktioniert bestens. Natürlich ist es hilfreich, wenn man die Gegend, wo man hinreisen möchte, schon kennt. Dann kann man sie sich einfach besser vorstellen. Nun gab es jedoch unter all dem Volk, das dort aus der Eisgrotte ans Tageslicht kroch, ein besonderes Wesen. Das war von klein auf ein Faulgnom gewesen. Als Junge war er zu faul gewesen, selbst zu essen und zu trinken, und so mußte er noch im heiratsfähigen Alter - das sind in Menschenjahren etwa, laßt mich rechnen, naja so um die siebenundzwanzigtausendvierhundertdreißig Jahre - also in diesem Alter mußte er immer noch gefüttert werden. Wie stolz war er stets auf seine zarten Händchen und Füßchen - benutzte er sie doch nie zum Arbeiten und Laufen! Gehen lernte der Faulgnom nämlich auch erst im reifen Erwachsenenalter, vorher ließ er sich überall hintragen. Eines aber tat er furchtbar gern, und das war auch zum Glück nicht sehr anstrengend: er lauschte für sein Leben gern Geschichten von fernen Ländern. Wo immer er einen von uns fand, der gerade nichts zu tun hatte, hielt er ihn fest und bat ihn eindringlich, ihm doch etwas zu erzählen. Besonders liebte dieser faule Gnom die Berichte über den Urwald auf den südlichen Welteninseln. Fasziniert hing er an den Lippen des Erzählers, vor seinen Augen zogen üppige Landschaften vorbei, wo es niemals kalt war und wo einem Tag für Tag die reifen Früchte in den Mund wuchsen. Der Faulgnom träumte gern von solchen Gegenden. Er malte sich aus, wie es wäre, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen und nichts tun zu müssen als auf den nächsten Hunger zu warten. Und so kam es, daß dieser Faulgnom an Afrika dachte, als die Zeit zur Abreise gekommen war. Afrika, so heißt die warme Welteninsel, wo der Urwald wächst, und wo alles so ist, wie sich unser Faulgnom das dachte. Ganz fest stellte er sich all die reichbehängten Obstbäume und Beerensträucher vor, gebratene Flugwesen huschten vor seinem inneren Auge herum, und alles duftete köstlich nach Vanille. Da war es auch schon passiert: der Gnom landete in Afrika, gerade dort, wo der Urwald am dichtesten ist.
Die Geschichte von den Menschen
Der faule Gnom dort im Urwald fühlte sich bald schrecklich einsam. Denn all seine Kumpane, seine Verwandten und das ganze übrige Kleine Volk hatte an etwas anderes als an Afrika gedacht, als es auf die Reise ging. Wer wollte denn auch schon nach Afrika! Das ist nicht gerade die ideale Gegend für Kobolde und Gnome. So war der Faulgnom dort ganz allein. Das fand er auf die Dauer nicht besonders schön. Außerdem war ihm furchtbar heiß. Den ganzen langen Tag knallte die Sonne auf die Urwaldbäume herunter, und die Luft war schwer und feucht und voller atemberaubender Gerüche. So schwer war die Luft, daß sie dem Gnom mächtig auf die Lungen drückte. Schweißperlen rannen ihm durch den verfilzten Schopf und durchweichten seinen langen Bart. Dornenranken, Kletten und klebriger Blütenstaub hielten ihn fest, wilde Tiere trachteten ihm nach dem Leben, und hinter jedem Baum glucksten irgendwelche unheimlichen schreckenverbreitenden Wesen. So wanderte der Kobold aus dem Urwald heraus in die freie Steppe. Das war mühsam, denn Steppengeschichten hatte er zuhause in der warmen, kuscheligen Eisgrotte nie hören wollen. Immer nur Urwaldgeschichten. Und so konnte er sich nun die Steppe nicht vorstellen, also auch nicht Hibbel-di-dibbel-di-rumbel-di-bum! dorthinreisen. Den ganzen langen Weg mußte er zu Fuß zurücklegen. Ihr könnt euch vorstellen, wie seine zarten Füßchen danach aussahen.
Die Idee...
All die Mühsal des täglichen Lebens und die furchtbare Langeweile, die den Faulgnom auch in der Steppe wieder beschlich, brachten ihn schließlich auf eine Idee. Er wollte sich unter all den Wesen, die es hier gab, eines zur Gesellschaft heraussuchen. Eines, das ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, das ihm frische Luft zufächelte und gekühlte Getränke servierte. Eines das ihm Geschichten erzählte und mit ihm lachte. Doch soviel er auch suchte und schaute, ein solches Wesen fand er nicht. Zunächst probierte der Faulgnom alle möglichen Tiere aus. Manche konnten ihm ganz gut Kühlung zufächeln, der Elefant etwa, eine ziemlich neue Tierform. Der hatte große Ohren zum Fächeln. Aber leider war dieses große graue Tier auch stets zu Späßen aufgelegt, und so brachte es oftmals vom Fluß einen ganzen Rüssel voll schlammigen Wassers mit und spritzte den Faulgnom damit naß. Und eins muß ich euch sagen: naß werden wir vom Kleinen Volk gar nicht gerne. Also das war nichts mit dem Elefanten. Außerdem konnte er beim besten Willen keine Geschichten erzählen. Auch mit den Hyänen ging die Sache nicht lang gut. Die lachten zwar mit unsrem Faulgnom den ganzen Tag, aber bald beschlich ihn das Gefühl, daß sich die albernen Tiere bloß über ihn lustig machten. Er versuchte es noch mit den Giraffen, weil er sich dachte: wer so einen langen Hals hat, der kann bestimmt besonders lange Geschichten erzählen. Schließlich mußte das doch ziemlich dauern, bis die Geschichten aus diesem Hals heraus wären. Aber die Giraffen glotzten nur blöde und blieben stumm. Da sah er einmal eine Herde seltsamer Höckertiere vorbeiziehen, die die ganze Zeit die Lippen bewegten, als hätten sie sich furchtbar viel zu erzählen. Doch leider verstand der Faulgnom kein Wort, ja er hörte noch nicht mal was. Die Tiere, Kamele nennt ihr sie, sahen ihn nur sehr von oben herab an, zuckten mit ihren Höckern und zogen von dannen. Außerdem hatten sie Plattfüße. Erst als der Faule sich an die Affen erinnerte, machte er Fortschritte. Dazu mußte er jedoch wieder in den Urwald, wo die Affen auf den Bäumen leben. Er hatte schon etliche Arten durch, als er an eine Horde vielversprechender Tiere geriet. Sie schnatterten und lachten und tobten herum, dabei rissen sie büschelweise Blätter aus dem Dickicht und warfen damit nach unserm Gnom. 'Das ist genau das Wesen, das mir fehlt', dachte der sich da. Flugs nahm er ein paar Exemplare mit sich hinaus in die sonnige Savanne und begann, einen Stammbaum anzulegen. Bald hatte er ein paar besonders gelehrige Exemplare herausgezüchtet, die sogar auf zwei Beinen liefen, um mit ihren Händen besser greifen und Dinge transportieren zu können. Dadurch hatten sie das Maul frei, in dem andere Tiere alles tragen müssen. So hatten diese Affen den ganzen Tag Zeit zum Reden und Lachen. Und das taten sie auch. Der Gnom war begeistert.
Der Mensch - von einem Faulgnom gemacht?
Schimpft nicht zu früh, ihr Menschen! Ihr züchtet Früchte, die im Dezember reif sind, mit tauben Samen und ohne Geschmack! Ihr bastelt Bakterien, die es vorher nie auf der Erde gab, und die ganze Völker von Euresgleichen einfach dahinraffen? Ihr beschießt euch gegenseitig mit todbringenden Wesen, die ihr selbst geschaffen habt! Bei euch heißt das Technologie, und wenn wir so etwas tun - und wir tun es wahrhaftig nicht oft, und schon gar nicht gerne - dann ist es Blasphemie? Also ich muß schon sehr bitten.
Ein Affe namens Link
Doch zurück zu unserer Geschichte. Wie gesagt, der Faulgnom war hell begeistert von seinen Experimenten. Fröhlich plappernd zog eine Gruppe seiner jungen Wesen durch die Savanne, und der Faulgnom lauschte entzückt ihren Unterhaltungen. Ein besonders schönes Männchen mit Namen Link fiel ihm immer wieder auf. Es war kräftig und schnell, wendig und schlau, und alles was der Gnom von ihm wollte, tat es prompt und mit Begeisterung. Der Gnom beschloß, Link mit in seinen Bau zu nehmen, damit er ein besonderes Augenmerk auf ihn halten konnte. Bald kochte Link für ihn, bürstete sein abgeschabtes Lederwams, kämmte ihm die zauseligen Barthaare glatt, und natürlich tat er all das gerne und zuvorkommend. Doch manchmal kam es dem Gnom so vor, als fehlten Link seine Freunde. Immer wenn sich das Wesen unbeobachtet glaubte, hockte es traurig in einem Baum und starrte in die grüne Blätterwildnis. 'Der Kleine braucht eine Frau', dachte sich der Gnom. Und er machte sich sogleich auf den Weg, um ein besonders hübsches Exemplar aus seiner Herde herauszusuchen. Weil er jedoch dachte, zwei Diener sind besser als einer, wählte er eine kräftige, stämmige kleine Frau mit langen schwarzen Haaren aus, die ordentlich zupacken konnte. Bald schon hatten sich die beiden Wesen angefreundet, und kaum war ein Jahr vergangen, da gab es quiekenden Nachwuchs in der Wohnhöhle des Faulgnoms. Link und seine kleine Frau waren ganz stolz auf ihre beiden Kinder. Im Lauf der Jahre entwickelten sich diese noch erfreulicher als ihre Eltern, sie waren ein ganzes Stück klüger und lauschten den Worten des Faulen mit verständiger Miene. Hin und wieder machten sie wirklich intelligente Einwürfe, es waren sogar Vorschläge dabei, auf die der Gnom von selber gar nicht gekommen wäre. So vergingen die Jahre, und unser Gnom hatte seine helle Freude an der neuen Sippschaft, die bald wuchs und wuchs, bis er schließlich eine ganze Herde hatte. Eins war intelligenter als das andere, es war wirklich eine Pracht.
Miß Ing und verwischte Spuren ...
Da begann ganz hinten im Kopf des Faulgnoms ein unschöner Gedanke an seiner Freude zu nagen. Was wäre, wenn einer käme und ihm seine Erfindung abspenstig machte! Hin und her überlegte er, denn er wollte seine neuen Wesen mit niemandem teilen. Schließlich hatte er nächtelang dagehockt und gegrübelt, um danach Jahr um Jahr Experimente durchzuführen. Ihm gehörten diese Wesen, und niemand sonst sollte sie haben. So beschloß er, die Spuren zu verwischen. Lange grübelte er darüber nach, wie er das bewerkstelligen könnte. Doch das Schicksal kam ihm zuvor, und der alt und grau gewordene Link starb, und bald darauf auch seine treue Gemahlin Miß Ing. Der Faulgnom brachte sie in eine abgelegene Höhle tief unter der Erdoberfläche. Durch unzählige Gänge schleppte er die beiden Wesen dorthin, wo ihm gewiß niemand folgen konnte. Dort blieben ihre Körper zurück und dörrten aus, bis sie zu Staub zerfielen. Den sammelte der Faulgnom Körnchen für Körnchen sorgsam auf und streute ihn in alle Himmelsrichtungen, so daß er ordentlich auseinanderstob. Hättet ihr heute dieses Pulver und könntet es richtig zusammensetzen, dann hätten eure Wissenschaftler endlich das gefunden, was sie schon lange für eure fehlenden Urahnen halten. Marieta Hiller, "Kieselbarts Geheimnis" - ein leider längst vergriffenes Buch mit Koboldgeschichten aus dem Zauberwald.