In einem Land weit weit weg, wo die Büttel des Königs keine Steuern eintreiben konnten...
Aber nicht vor langer langer Zeit, sondern genau heutzutage
Ein "Realchen" von Marieta Hiller
Nun, so setzt euch zu mir, ich will euch eine Geschichte erzählen. Welche Lehre ihr daraus zieht, müßt ihr selbst entscheiden. In jenem fernen fernen Land, dessen Name nach Abenteuer, Urwald und Piraten klingt, da lebt ein Flußmonster mit vielen Köpfen, und wann immer ein mutiger Held zu den Ufern seines Heimatstromes aufbrach und ihm einen oder zwei Köpfe abschlug, so wuchsen sofort doppelt so viele nach.
Dieses Monster verkroch sich am liebsten im dunklen undurchdringlichen Wald, wo es weder Finanzamt noch Kartellamt finden konnte. Und was glaubt ihr, was es am liebsten fraß? Buchhändler! Das Monster schnappte sich einen nach dem anderen, bis man in keinem Dorf und in keiner Stadt des Landes mehr einen finden konnte. Denn das Monster hatte sehr lange Klauen! Es mußte seinen finsteren Urwald nicht einmal verlassen, um sich die Buchhändler zu holen. Dazu hatte es nämlich ein Netz - ein Netz, so gewaltig, daß es die gesamte Erde umspannen konnte!
Natürlich merkten die Menschen von alledem nichts, denn längst waren sie dem Monster auf den Leim gegangen. Sein Netz war nämlich mit süßem Leim bestrichen, dem kaum ein Mensch widerstehen konnte.
Bald hatte das Monster alle Geschäfte der gefressenen Buchhändler übernommen, und es gab sich nicht mit Büchern zufrieden! Sein Netz überspannte bald auch Filme, Musik, Essen, Trinken und alles, was Menschen nur haben wollten - sogar die Goldstücke, mit denen alles bezahlt werden mußte.
Es währte nicht lange, da konnte sich kaum ein Ladenbesitzer noch am Leben erhalten, ein Geschäft nach dem anderen mußte schließen. Denn alle wollten nur noch die Dinge aus dem süßen Netz haben.
Bald waren die Einkaufsstraßen ausgestorben, aber das merkte niemand. Denn niemand mußte noch sein Haus verlassen. Das süße Netz brachte ihm alles nach Hause, was das Herz begehrte. Die Menschen saßen vor ihren Babbelkästen, die in Wahrheit die geheime Pforte zum süßen Netz waren. Sie starrten hinein und wurden immer tiefer ins Netz gezogen - jeder Raum hatte wiederum viele Türen, die in neue Räume führten, mit noch viel mehr Türen. Und so fanden die Menschen bald nicht mehr heraus und waren gefangen. Sie gingen nicht mehr an die frische Luft - wozu auch? Es war ja sonst niemand da draußen!
Halt, nicht ganz: ETWAS war noch da draußen! Es brummte und hatte laute Schiebetüren, und ständig sprang ein Sklave heraus und schleppte Pakete zu den Wohnungen der Menschen. Wohl hatten die Pakete ein sehr fröhliches Gesicht, nicht aber die Sklaven die sie Tag für Tag verteilen mußten. Sie schufteten und schufteten, und hatten doch nie genug Brot auf dem Tisch.
Bald aber - und das ist es, was ein Realchen von einem Märchen unterscheidet: es weist auf die Zukunft hin - bald aber, wenn die Menschen in ihren Sesseln festgewachsen sein werden und keine Beine mehr haben, dafür aber sehr sehr bewegliche Finger, dann wird eine Zeit kommen wo es nicht mehr ein einziges Geschäft geben wird, in dem man etwas kaufen könnte. Alles was die Menschen brauchen, werden sie im süßen Netz finden, und die Sklaven bringen es ihnen in fröhlich lachenden Paketen.
Das ist nicht das Ende der Geschichte, leider! Ihr wißt ja, hinter dem süßen Netz lauert das vielköpfige Monster. Und wenn es soweit ist, wird es sich der Prinzessin ihr Kind holen. Ihr fragt euch jetzt, wie in diese Geschichte das Kind der Prinzessin geraten konnte? Nun, so denkt nach: was ist euch das Allerwichtigste auf der Welt? Richtig, ein jeder von euch nennt etwas anderes. Und deshalb müssen wir dafür ein Bild nehmen - und dieses Bild ist eben der Prinzessin ihr Kind. Euer Liebstes, euer Herzblut.
Das Monster giert nach eurem Herzblut! All diesen ganze Aufwand mit der Buchhändlerfresserei und dem süßen Netz betrieb es nur, um an euer Liebstes zu kommen. Und gnade euch Gott, wenn es soweit ist!
Marieta Hiller, September 2021
*Realchen sind das Gegenteil von Märchen. Erinnern Sie sich noch an die Sendung im SDR in den 70er Jahren - mit dem Hondebott, mit Ringselsalz und dem kranken Realchenerzähler?