In einem fernen Land, vor langer langer Zeit...
Märchen: eine der schönsten Formen von Eskapismus – Flucht in die funkelnde Welt der einfachen Form
In einem Königreich, einer Monarchie, lebten die Brüder Grimm, aber die Monarchie hatte eine Verfassung. Ein König herrschte, wie im Märchen. Klug, weise, besonnen und gerecht. Klugheit, Weisheit und Besonnenheit, diese wichtigen Eigenschaften, die einen Menschen so besonders machen daß er sogar zum König taugt, man wünscht sie so manchem. Gerechtigkeit aber setzt voraus, daß ein Rechtsbewußtsein und ein Rechtssystem besteht. Daß Könige niemals wirklich so waren, das muß den Brüdern Grimm schon bewußt gewesen sein - haben sie sich vielleicht deshalb in die Märchen geflüchtet?
Das Scheitern der Vormärz-Revolution im Jahre 1848 führte dazu, daß sich das Bürgerturm aufs Private zurückzog, das Biedermeierzeitalter brach an. Alles bekam hübsche Häubchen, Schabracken, Stuhlhussen, Zierrat in den Häusern, in der Kleidung und im Kopf hielt Einzug. So erklärt sich vielleicht auch der Erfolg Fürst Bismarcks.
Wenig später umrankte der Jugendstil die Realitäten, das Fin de Siecle war zugleich das Ende der Wirklichkeit. Ein böses Wort für das, was danach kam, ist Dekadenz. Doch das erlebten die Brüder Grimm nicht mehr: Wilhelm stirbt 1859, Jakob vier jahre später. Bismarck, der deutsch-französische Krieg 1870/71 und alles was folgte erlebten sie nicht mehr. Ihr deutsches Wörterbuch aber wurde tatsächlich erst im Jahr 1961, nach 123 Jahren des Sammelns, Erfassens und Wiedergebens, fertig.
Die Brüder Grimm wollten eine Einigung ihres deutschen Vaterlandes, sie waren nicht revolutionär, nicht fortschrittlich, aber engagiert und konsequent. Das Wort hat nach ihrer Überzeugung eine durchaus politische Dimension: wer deutsch spricht, gehört zur Gemeinschaft. Daß da zahlreiche Märchen in ihrer Sammlung ursprünglich aus dem Französischen kamen, störte sie nicht, denn das gesamte Bildungswesen orientierte sich am französischen Vorbild, Hauslehrer und Gouvernanten sprachen französisch mit den Kindern, und auch die Brüder Grimm hörten sicher viele Märchen in französischer Sprache. Aber sie übernahmen sie als Erbe und deutschten sie ein.
Die Arbeit der Brüder Grimm war oft mehr wissenschaftlich als schöpferisch, außer in der Auswahl. Wilhelm Grimm litt darunter, nicht schöpferischer tätig sein zu dürfen. Das Sammeln, Erfassen und Wiedergeben genügte ihm nicht. So erfand den Märchenton, diesen unvergleichlichen Klang, der uns unversehens aus der harten Realität entschweben läßt in eine funkelnde Märchenlandschaft. Obwohl es doch oft um grausame Zustände geht, in denen arme Kinder leben, um Menschenfresser und Unglückszauber, um unausweichliche Schicksale, umfangen uns die Märchen doch so weichgespült, so „kindlich und heimelig, zugleich unpolitisch und züchtig“, wie der Autor Andreas Venzke („Die Brüder Grimm und das Rätsel des Froschkönigs“, Arena Bibliothek des Wissens) feststellt.
Warum fühlen wir uns so behaglich, kaum tauchen wir in die Welt der Märchen ein?
Ein guter König, der meist mit einer bösen Königin (oder seltener auch umgekehrt) gesegnet war - das rührt von der Heiratspolitik her. Die Königinnen werden wohl mehrheitlich nicht wirklich zufrieden gewesen sein mit ihrem Posten... Wer wünschte sich heute eine solche Monarchie, und sei sie auch noch so konstitutionell!
Im Märchen aber fühlt man sich gerade dort am besten aufgehoben. Wir schöpfen Kraft aus den Märchen, obwohl ihre Lebenswelt doch eher unangenehm wäre. Vielleicht fällt es uns leichter, die komplizierte Wirklichkeit besser zu erleben, wenn wir sie zunächst als Modell in einfachen Bildern betrachten? Wir machen die Strukturen einfach, übersichtlich, klar, um sie besser zu verstehen und finden so dann eine Lösung. Vielleicht aber wollen wir auch nur einmal für eine kurze Zeit etwas ganz anderes erleben, eine andere Welt, eine andere Zeit, eine andere Gesellschaft.
Da muß man nicht einmal Märchenfreund sein: was viele moderne Menschen weit von sich weisen, sich aber gleichzeitig Geschichten wie Starwars, Raumschiff Enterprise und anderen Space Operas hingeben.
Kommt der Anfang nicht immer ein bißchen bekannt vor: wir befinden uns im Jahr 2132 der Konföderierten Planeten – oder in einem Land weit weit weg, vor langer langer Zeit? Nur in die andere Richtung auf dem Zeitstrahl gereist, nur nach außen statt nach innen geschaut - und schon haben wir die perfekte Märchenwelt! Es gibt Monster, böse Zauberer in Gestalt von technologisch höherstehenden Lebensformen, finstere Potentaten die andere Spezies in ihren Bergwerken schuften lassen, es gibt Gefangenenplaneten und geheimnisvolle Welten, in denen andere physikalische Gesetze gelten - wie viel weiter entrückt ginge es denn noch! Es gibt die unerforschten Weiten, die nie ein Mensch zuvor betrat - der finstere Wald der Märchen... Die Handelnden sind souverän, klug, mutig und engagiert, und sie halten sich an den Kodex - erscheint uns das nicht ein bißchen wie das „Klug weise besonnen gerecht“ des Märchenkönigs?
Und immer siegt am Ende das Gute, das wissen wir die ganze Zeit. Vielleicht ist auch dies der Grund, warum wir uns in Märchen so wohl fühlen: wir dürfen die ganze Zeit wissen, daß am Ende alles gut wird. Und so leben wir glücklich zwischen Steuererklärung, Arbeitslosigkeit und Lebensmittelskandalen - bis ans Ende unserer Tage....
Marieta Hiller