Frühling läßt sein blaues Band...
Ein wahres Märchen um die Farbe Blau und den Dichter Eduard Mörike

„Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja Du bist 's!
Dich hab’ ich vernommen!“
Eduard Mörike 1829


Blau - die Farbe der Sehnsucht, der Ferne, das Blaue gibt Ruhe, Erholung und Selbstgenügsamkeit. Blau war etwas ganz besonderes: die Steinzeitmenschen hatten es nicht für ihre Höhlenmalerei zur Verfügung, sie konnten es nur in ungreifbaren Sphären sehen: im Himmel und im tiefen Wasser. Noch bis in die Zeit um 1830 war die Farbe Blau eine der kostbarsten, konnte nur aus Lapislazuli-Edelstein gemahlen. Im Mittelalter war das Blau in der Malerei daher ausschließlich Madonnenbildern vorbehalten. Aus Übersee mußte es bezogen werden, daher wurde es auch Ultramarin genannt.
Steht auch die Farbe Blau für Sehnsucht, hat der Ausdruck Blau machen nichts Träumerisches an sich: es war die Wartezeit, bis ein mit Färberwaid getränktes Stück Stoff am Luftsauerstoff sich von grün zu blau wandelte - blau ist eine Zauberfarbe. Erdgeister und Zauberer, Irrlichter und Wasserwesen waren blau, doch auch die christlichen Cherubim.
Flüchtig und kostbar war also die Farbe Blau, nur verfügbar im Himmelsblau und in tiefen Wassern. Welches Wasser aber könnte tiefer - und blauer - sein als der Blautopf in Blaubeuren?
Aus unergründlichen Tiefen sprudeln hier die Wasser, keine Quelle ist es eigentlich, vielmehr treten hier Wässer wieder ans Licht, die auf geheimnisvollen Pfaden tief im löcherigen Kalkgestein von weither kommen, aus einem Gebiet von über 160 Quadratkilometern. Vom Kalk her rührt auch die blaue Farbe. Ein jeder kennt die Alpenflüsse, die an ihrem Beginn milchig in Grün- und Blautönen von den Bergen kommen. Ihre Farbe kommt vom Kalk, der das Wasser undurchsichtig macht und so eine Himmelsreflexion hervorruft.
Der Karst der Schwäbischen Alb ist geheimnisvoll verwinkelt: unerwartete Verbindungen unterirdischer Höhlen und Gänge finden sich; er beherbergt uraltes Leben, unzählige Fossilien aus vergangenen Erdzeitaltern haben darin überdauert und berichten uns von einer Zeit, die für uns höhlenliebende Neuzeitmenschen schwer vorstellbar ist. Sie waren schon uralt, als vor 30.000 Jahren die Menschen der Steinzeit hier in den Karsthöhlen wohnten. Einst nämlich, vor 150 Millionen Jahren, lag  der heutige Höhenzug der Schwäbischen Alb auf dem Grund des Jurameeres,  und die Kalkablagerungen dieses Meeres werden von der Kohlensäure, die sich aus Regenwasser bildet, aufgelöst und lassen so weitläufige Höhlensysteme entstehen.
Wieviel Menschengeschichten werden wohl seit Tausenden von Jahren von den Höhlenwänden des Karst klingen wie ein vielfaches Echo? Wie Wasser in einem Schwamm sammelt sich hier die Essenz von Sagen und Märchen, von Leben. Durchs tiefe Blau scheint sie zu uns hinauf in die kühle Welt der Sachlichkeit: „eine Kuppelhöhle in der Unteren Felsenkalk-Formation des Oberjura“ - diese Beschreibung mag für Geologen zureichend sein, doch wer einmal die Brillenhöhle bei Blaubeuren aufsucht (von ihr war oben die Rede) und Licht und Stein auf sich wirken läßt, dem kann die Höhle schon als Zufluchtsort vor Kälte, Regen und Wölfen vorstellbar werden, als Höhle in ihrem urbildlichen Sinn von Geborgenheit.
Geborgenheit bedeutet Behütung ohne Einschränkung dder eigenen Beweglichkeit. Denn der Blick hinaus in die  lichte Weite, heraus aus einer Höhle, macht diese Wahrnehmung eigentlich aus. Wie Friedrich Hundertwasser feststellte: „die einen behaupten, Häuser bestehen aus Mauern, ich sage die Häuser bestehen aus Fenstern“, so ergeht es auch demjenigen, der sich mit einer Höhle vertraut macht: das Herausschauen ist das Wichtige.
Unser Urzeitjäger-Kleinhirn weiß: Schutz vor Eindringlingen und Gefahren, aber auch Sehen Hören Riechen des Draußen müssen gesichert sein.
Und so brauchen wir ein Bild der Welt, das über eine trockene geologische „UnterFelsenkalkOberJura“-Erklärung hinausgeht: wir brauchen die Wassernixe, Verkörperung der Urmutter wie auch der Verführerin - die schöne Lau.
Bevor man endlich nach jahrhundertelangen Versuchen in der Lage war, die Tiefen des Blautopfes auszuloten, galt er als bodenlos und die Schöne Lau, die darin lebte, soll jedesmal das Bleilot an sich genommen haben...
Schon die Namen geben einen Hinweis auf die uralte Verwandschaft zwischen Wasser, der schönen Lau und dem Bleilot:
denn der Name „Blau“ stammt nicht von der Farbe des Wassers, er kommt aus vorgermanischer Zeit zu uns, damals hieß er Blava, mit einer indogermanisch-keltischen Wurzel. Auch andere Flüsse klingen ähnlich: Donau Nau, Drau und Sau (Save). Allen zugrunde liegt Awa, was nichts anderes als  Wasser bedeutet. Alle Wasserwörter haben zugleich auch die Bedeutung von „rein, klar“, so etwa das Flüßchen Lauer, das von hlur kommt und unser heutiges Wörtchen lauter anklingen läßt. Apropos rein und klar: Whisky und Wodka haben die selbe Wortwurzel! Beide - uisge und woda - sind Formen von awa. Und der Fluß Blau, der aus dem Blautopf sprudelt, hieß früher auch Ilm, Elm, Ulm - wohin er auch fließt, und das bedeutet nichts anderes als Fluß oder Strom.
Die Blau andere Flüßchen von der Schwäbischen Alb tummeln sich spielerisch in einem uralten Donaubett in Richtung Ulm. Hier aber werden die mäandernden Wasser gebändigt: kein Umlaufberg, keine Eskapaden, nur noch geradlinig funktionierende Wasserstraße dürfen sie hier sein.
Um so schnörkelvoller ranken sich die Geschichten um den Blautopf und seine berühmte Bewohnerin, die schöne - oder arge - Lau. Im Blautopf lebte sie, traurig war sie, denn ihr Gatte hatte sie verstoßen, weil sie keine Kinder bekam. Einer Weissagung zufolge mußte sie fünfmal von Herzen lachen und der Grund durfte ihr vorher nicht bekannt sein.
Die schöne Lau lebte in herrlichen Räumen tief unter der Erde, die so genau von Eduard Mörike beschrieben werden, daß man nicht glauben möchte, sie seien erst im Jahr 1957 entdeckt worden. Von Schätzen, die die Lau in ihren Kammern vorfand, wird da erzählt - Dinge, die den Menschen in den Blautopf gefallen waren wie einst die blutige Spindel der Goldmarie?
Mörike schrieb seine Geschichte 1855, und er übernahm darin alte Erzählungen der schwäbischen Landsleute. Wußte man unbewußt schon immer um die Höhlen tief unten im Karst?
Die schöne Lau saß unten in ihrem Blautopf, und jedesmal wenn ein neugieriger Mensch sein Bleilot hinabließ, um die Tiefen auszuloten, nahm sie das Lot an sich und brachte es in ihre Schatzkammer. So sollen sich auch kostbare Gegenstände, die von dort geborgen wurden, sich - kaum daß sie aus dem Wasser kamen - in schnödes Blei verwandelt haben. Blei und Lot: auch zwei Wörter, deren Ursprung eng mit Wasser verbunden ist. Heute noch klingt Lot im englischen Lead für Blei an, seine Abstammung allerdings ist indogermanisch-keltisch. Pleud, leud, für fließen und laudia für fließendes Metall, also Blei. Auch löten läßt noch die Verwandschaft anklingen.
Die Tiefe des Blautopfs ausloten - das ließ den Menschen durch die Jahrhunderte nicht ruhen. Und im Jahr 1718 gelang es dem Prälaten Weißensee, die Tiefe mit 62 1/2 Fuß zu messen, ohne daß ihm die Lau das Lot gestohlen hat.  62 1/2 Fuß - das sind ungefähr 19 Meter, so genau läßt sich das nicht sagen, denn ein Fuß war eine halbe Elle, und die Elle konnte von Mensch zu Mensch kürzer oder länger sein....
Ausgerechnet ein Mann des Glaubens wollte den Volksglauben von der Unergründlichkeit des Blautopfs widerlegen, doch wirklich erreicht wurde der Grund des Blautopfes erst im Jahre 1957, er liegt auf 20,6 Metern Tiefe (manche sagen auch: 22 Meter). Dabei fand man auch den Eingang zu einer Höhle ganz am Grund des Blautopfes. Heute weiß man, daß sie zum größten und interessantesten Höhlensystem Deutschlands führt. Hier gibt es eine Halle namens Apokalyse, einen Mörikedom und ein Wolkenschloß.
Über die vielen Bleilote, die die schöne Lau an sich genommen haben soll, macht sich der schwäbische Volksmund lustig mit dem Zungenbrecher:

    Glei bei Blaubeira leit a Kletzle Blei -
    ´s leit a Kletzle Blei glei bei Blaubeira

    (Gleich bei Blaubeuren liegt ein Klötzchen Blei -
    Es liegt ein Klötzchen Blei gleich bei Blaubeuren)

Aus dem Blautopf fließen zwischen 2000 und 32000 Liter pro Sekunde, und die Mär von der schönen Lau berichtet von Überflutungen der Keller und Gärten von Blaubeuren, immer dann, wenn die schöne Lau besonders traurig oder zornig war, oder wenn ihr  unfreundlicher Gatte vom Mündungsgebiet der Donau im Anmarsch war.
Die Höhle, zu der man vom Grund des Blautopfes vorstoßen kann, hat eine vermessene Länge von 3000 Metern, man schätzt aber daß sie noch weitere Kilometer in den Karst reicht.
Doch ist sie nicht die einzige - wenn auch vielleicht die märchenhafteste - Höhle im Karst der schwäbischen Alb: rund um Blaubeuren im Aach- und Blautal gibt es Höhlen mit bedeutenden archäologischen Funden aus der Epoche des Aurignacien vor 30 000 bis 40 000 Jahren.
Die Blautopfhöhle, die Vetterhöhle, die Seligengrundhöhle, das Geißenklösterle, die Brillenhöhle, die Große Grotte, die Sirgensteinhöhle und der Hohle Fels gehören dazu.
Wunderschöne Elfenbeinfiguren mit einem Alter von 32 000 bis 35 000 Jahren wurden hier gefunden. Im Hohlen Fels gibt es Führungen und Sonntags von 14-17 Uhr ist sie im Sommer geöffnet (1. Mai bis 31. Oktober). Im Winter möchten dort die Fledermäuse ihren ungestörten Schlaf genießen. Führungen: Erwin Haggenmüller, Tel. (0 73 94) 5 95, e-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Im Museum in Schelklingen sind zahlreiche der Steinzeitfunde zu sehen, auch die Website www.museum-schelklingen.de läd ein zum Schmökern und Stöbern.
Ein Fund, der dort zu besichtigen ist, weist auf die Jagd nach Höhlenbären hin, denn in einem 30.000 Jahre alten Knochenstück von einem Bären wurde ein Höhlenbärenwirbel mit Silexeinschluss aus dem Hohle Fels bei Schelklingen geborgen. Schnittspuren von Feuerstein auf dem Wirbel zeigen, daß der Bär zerlegt wurde.
Wen all die Höhlen mit ihren Geheimnissen und der märchenhafte Blautopf neugierig auf mehr gemacht hat, der sollte einmal nach Blaubeuren fahren. Informationen über diese schöne schwäbische Stadt in der Nähe von Ulm gibt es reichlich unter www.blaubeuren.de. Einen nostalgischen Ableger der guten alten Schwäb’schen Eisenbahn gibt es hier auch, allerdings ohne Schienen: das „Blautopfbähnle“ fährt zwischen „Schtuegert ond Ulm“ Aussichtspunkte und Sehenswürdigkeiten an. Infos: www.auto-mann.com.
Die schöne Lau sitzt - in Stein gehauen am Rande des Blautopfes und wartet auf jemanden, der sie so richtig herzlich zum Lachen bringt. Marieta Hiller

Der Frau-Holle-Teich: Märchenquelle, Sinnbild und wanderbare Traumwelt

Sonnenblinken spiegelt durch lichtes Blätterdach, weiche Wolken treiben durchs Oben und Unten. Die Welt auf der glatten Oberfläche ist im Reinen mit sich, es wintert.
Unter der zarten Haut der Wirklichkeit aber lebt eine ganz eigene Welt, märchenhaft gespiegelt und zauberisch entrückt. Durch den klaren Wasserspiegel schimmern Urbilder menschlicher Erfahrung herauf: Selbstlosigkeit gegen Eigennutz.

Als Goldmarie und Pechmarie stürzten sich beide in den Brunnen, in die Traumwelt - und zu Frau Holle. Hier nahm alles seinen Ausgang - am Frau Holle Teich am Hohen Meißner: ein tiefes Wasser als Märchenquelle, und doch entspringt es alten Volkssagen; schon im 17. Jahrhundert von Johann Praetorius festgehalten - Holzspäne verwandelten sich in Gold und sich ein Nutzzauber (stets gefüllte Bierkrüge) verflüchtigte, sobald der Beschenkte ein Wort darüber verlor. Erst eineinhalb Jahrhunderte später destillierten die Gebrüder Grimm die alten Sagen zu einer Märchenwelt ohne Zeit und Ort - das Märchen von Frau Holle, von Goldmarie und Pechmarie, von fertiggebackenem Brot und reifen Äpfeln, vom Schütteln der Kissen und vom Schnee auf der Erde war geboren.

Frau Holle lebt unter uns seit dem Ursprung der Zeit: als Hulda, Holde, Huldr, Perchta, Freya oder Frigg in der nordischen Mythologie, aber auch als Diana, Isis und Venus. Sie verkörpert die weibliche Dreigestalt Jungfrau, Mutter und altes Weib, die es als nordische Nornen, griechischen Moiren und auch im christlichen Glauben als dreifache Maria am Kreuz ist sie gegenwärtig: “„Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.” (Joh 19,25). Frau Holle steigt als wunderschöne junge Frau aus dem Teich, zieht mütterlich die beiden Mädchen aus der Oberwelt - beide heißen Marie! - in ihren Bann und erschreckt doch zugleich als gräßliches altes Weib mit großen Zähnen.

Bevor die alte Sagengestalt der Holle durch christliche Mythen überdeckt wurde, war sie Feenkönigin, Herrin der Hollen, Perchten oder Klausen. Sie alle gehören zum kleinen Volk der Wichtel, Berggeister werden mancherorts auch Huldrefolk genannt. In vielen Sagen leben die Zauberwesen fort, unter der Decke des Christentums herrscht Frau Holle über ihre Welt.
In jeder Region unserer Kultur lebt die Geschichte der Frau Holle und ihrer Helferschar, doch nur eine Landschaft wird so von ihr geprägt wie die Wiesen und Wälder um den Hohen Meißner im Fulda-Werra-Bergland. Ist doch selbst die Braunkohle dort ein Geschenk der Frau Holle - bereits ab 1560 ist der Braunkohle-Abbau belegt, doch ein armer Glasmacher aus Wickenrode auf seiner verzweifelten Suche nach Feuerholz fand braune Steine auf der Wiese, und als man dort grub, fand man soviele, daß niemand mehr winters frieren mußte. Die Schätze der Erde gibt Frau Holle an gute Menschen heraus, und manch junges Mädchen stieg in den Frau Holle Teich und bekam ein Kind geschenkt. Doch hatte auch die Holle eine dunkle Seite: zu Zeiten zog sie mit dem Wilden Heer durchs Land und lockte Kinder in den Teich. Goldmarie und Pechmarie - gute Menschen wie schlechte Menschen hören ihr allereigenstes Echo aus den Tiefen des Wassers.

Auch heute hat Frau Holle ihren Zauber nicht verloren. Gemeinsam mit Goldmarie und Pechmarie zeigt sie sich als Skulptur in einer märchenhaften Landschaft. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Wiesen und Wälder des Hohen Meißners läßt sich das Echo aus der Traumwelt des Märchenzaubers erspüren. Auch die Wanderung nimmt den Frau Holle Teich als Ausgangspunkt: hinauf auf den Schnee-Berg, den Hohen Meißner - dessen alte Namensbedeutung Weißer Berg ist - geht es in einer dreistündigen Wanderung mit fachkundiger Führung einer Naturparkführerin des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald. Auf dem Kalbe-Pfad lernt man Feuer und Wasser auf dem Hohen Meißner kennen, hier brennt seit 400 Jahren im Berg selbst entzündete Kohle. Nur auf einer geführten Wanderung kann man dies entdecken - manch abgeschiedenes Fleckchen im Naturschutzgebiet ist nur mit fachkundiger Führung zu entdecken, so auch die Kripplöcher mit ihrer Karstlandschaft. Man muß nicht unbedingt wandern: wer möchte, kann sich die Meißnergeschichten auch am gemütlichen Bolleröfchen anhören.

Kommt man jedoch zum Frau Holle Teich, so gibt es dort ganz in der Nähe - an der Zaubersbrücke - noch heute einen Zauber: wirft man dort mit geschlossenen Augen etwas aus dem Wald ins Wasser, so erhört Frau Holle Wünsche. Wer nun noch immer nicht weiß, ob er auch einen Pechmarie-Wunsch äußern darf, der sei gewarnt vor dem Höllenhund an der Zaubersbrücke, der mit glühenden Augen die guten Wünsche bewacht...                  Marieta Hiller

Märchenzauber und Fachwerkidylle: Spurensuche auf der Deutschen Märchenstraße

Es waren einmal zwei Brüder: Jacob und Wilhelm Grimm, redliche Söhne aus einer frommen Familie zu Hanau. Mit ihnen lebten im Haus ihrer Eltern noch fünf Geschwister, drei kleine Geschwisterlein mußten ihre Eltern schon als Säuglinge zu Grabe tragen. Jacob und Wilhelm aber gediehen und lernten viel in ihrer Jugend zu Steinau an der Straße, wo ihr Vater sich als Amtmann verdungen hatte. Bald trieb es die beiden Jünglinge aber hinaus in die Welt, und auf ihren Reisen sammelten sie Wörter - ernsthafte Wörter für ein Wörterbuch, und märchenhafte Wörter aus alten Volkserzählungen.
Wo immer ihnen eine Sage oder Legende begegnete, öffneten sie ihre Ohren, spitzten ihre Schreibfedern und notierten alles getreulich....

So könnte es klingen, so könnte die Deutsche Märchenstraße sprechen. Doch Straßen sprechen nicht - zumindest nicht in Worten - wer ihre Sprache aber versteht, der wird reich belohnt werden.
Von Hanau, dem Anfangspunkt der Gebrüder Grimm wie auch der Märchenstraße, von Hanau also mit seinen Märchenfestspielen führt uns die Straße schnurstracks nach Steinau an der Straße, wo es ein Gebrüder-Grimm-Haus gibt, und weiter nach Schlüchtern mit seinem Bergwinkelmuseum. Weiter geht es durch idyllische Fachwerkstädtchen nach Alsfeld, dem Tor zum Rotkäppchenland.

In Marburg, der alten Universitätsstadt, wird es kurz hochwissenschaftlich - denn just an diesem Orte begannen die beiden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit ihrer Wörtersuche.

Im Knüllwald schließlich - mitten im Herzen des Rotkäppchenlandes - begegnen uns Wolf und Bär im Wildpark Knüll. Was die beiden wohl alles zu erzählen wüßten, könnten sie denn sprechen?

Brüderchen und Schwesterchen erwarten uns in Homberg an der Efze auf dem romantischen Brunnen am Marktplatz, und weiter führt uns unsere märchenhafte Reise nach Bad Wildungen, zum Schneewittchen, der Sage nach die Schwester des Grafen Samuel zu Waldeck vor fast 500 Jahren als Halbwaise über die sieben Berge an den Hof zu Brüssel kam, woselbst sie bei einer Hofintrige vergiftet wurde. Die sieben Zwerge aber lebten bei einem Kupferbergwerk in Bergfreiheit ganz in der Nähe...

Doch wir müssen weiter: nach Kassel, der Hauptstadt der Märchenstraße, woselbst es den Brüdern Jacob und Wilhelm gefiel, ihre gesammelten Volksmärchen zu bearbeiten und als Märchenbuch mit “Kinder- und Hausmärchen” zu verbreiten.

Nun aber sollten wir uns gen Süden wenden und in einer Schleife das Städtchen Hessisch Lichtenau besuchen, denn hier gehen wir geradewegs durch das Tor zum Frau Holle - Land, wo Goldmarie und Pechmarie am Brunnen sitzen und Frau Holle an ihrem Teich am Fuße des Hohen Meißners regiert.

In Witzenhausen endlich könnte Goldmarie ihre Kunst erlernt haben, das Brot aus dem Ofen zu ziehen und den Apfelbaum zu schütteln, denn hier in der kleinsten Universitätsstadt in Deutschland wird noch heute Ökologische Agrarwissenschaften gelehrt.

Nun aber müssen wir doch zurück nach Kassel, denn die Märchenstraße treibt hier ihre Späße mit uns. Sie teilt sich und führt den Wörterjäger auf einer östlichen und einer westlichen Route weiter, bis sie sich bei Fürstenberg an der Weser erneut vereint. Wir aber würden das Beste versäumen, gingen wir nicht zurück, um vorwärts zu kommen. Vorbei am Doktor Eisenbart in Hannoversch Münden treffen wir in Immenhausen den Hans im Glück und gelangen endlich zu Dornröschens Schloß, der Sababurg.

Auch den Turm, worinnen Rapunzel einst sein Haar herunterließ, passieren wir zu Trendelburg. Der gestiefelte Kater begegnet uns in Oberweser, auch vom Schneewittchen hört man hier oft reden. Um Aschenputtel geht es endlich in Polle, doch was man uns Bodenwerder berichtet, das glauben wir nicht ganz. Denn hier war der Baron Münchhausen beheimatet.

So wandern wir sogleich nach Hameln, sind jedoch auf der Hut vor dem berühmten Rattenfänger, der seinen gerechten Lohn nicht bekam.
Ein gutes Stück Wegs gen Norden gelangen wir nach Bremen, allwo die Bremer Stadtmusikanten ihr schauerliches Konzert geben.
Kommen wir nach Buxtehude, so treffen wir als Erstes den abgehetzten Hasen, und als Zweites den Igel - oder ist es seine Frau? - die allezeit schon da sind.
Nun aber verlassen wir die Brüder Jacob und Wilhelm, die inzwischen zu Ehrendoctores wurden, auf daß sie ungestört ihrer Wörterjagd weiter frönen können, und vertiefen uns in die Kinder- und Hausmärchen... 

Die ARD bringt die funkelnde Welt der Märchen mitten in unsere Wohnzimmer - und in unsere Herzen

Die Jugend für eine Nachtigall - das ist der Preis, den Joringel für seine Jorinde zahlen muß, mit einer blutroten Blume mit einer Perle in der Mitte. Das anrührende Märchen zweier Liebender, die nur nach unvorstellbaren Schwierigkeiten zueinander finden konnten, wird in der neuen Märchenstaffel der ARD aus dem Jahr 2011 erzählt. Vier neue Märchen wurden an Weihnachten 2011 ausgestrahlt: Die Sterntaler, die zertanzten Schuhe, Aschenputtel und Jorinde und Joringel  - mit prominenten deutschen Schauspielern und gedreht an märchenhaften Orten: im Schloßpark Petzow, auf Burg Querfurt und auf Burg Falkenstein, im Freilichtmuseum Detmold und auf Schloss Anholt und in der  Reichsburg Cochem - Orte, die schon ganz allein zum Träumen verführen.

Katja Flint, Uwe Kockisch, Dieter Hallervorden, Inez Bjørg David, Barbara Auer, Harald Krassnitzer, Rufus Beck und Meira Durand standen im Laufe dieses Jahres an solch märchenhaften Drehorten vor der Kamera, um sich wie durch Magie in mächtige Zauberer, in unbeholfene Könige, eitle Kammerzofen, liebende Turteltäubchen, schneidige Jäger und intrigante Hofmeister zu verwandeln - und um uns durch ebendiese Magie zu verzaubern. Und immer führen sie uns hindurch durch einen tiefen verwunschenen Wald, hinauf auf eine verfallene Burg voller Geheimnisse, hinein in ein Schloß voller traumhafter Kostbarkeiten.

Der Schloßpark Petzow,  ein architektonisches und landschaftliches Gesamtkunstwerk und mit 15 Hektar ein gewaltiges Werk im Umfeld der Potsdamer Herrlichkeiten, geschaffen im 19. Jahrhundert von Peter Joseph Lenné, nimmt uns mit zu Jorinde und Joringel, wie sie durch die Landschaften unserer Seele eilen, wo die Nachtigall ihr klagendes Lied singt:   

„Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt     Leide, Leide, Leide:    
es singt dem Täubelein seinen Tod,     singt Leide, Lei – zicküth, zicküth, zicküth.“

Hier und in der Stiftung Kloster und Kaiserpfalz Memleben, wo Kaiser Otto der Große starb, und in Burg Querfurt, die siebenmal so groß wie die Wartburg ist, bringt der rbb das Märchen von den beiden Liebenden zur vollen Geltung. Auch der MDR drehte auf Burg Querfurt und in den Kirschengärten ringsum und auf der Rudelsburg mit ihrem weiten Blick über das Land der Saale. Zwölf Töchter, die allnächtlich ihre Schuhe zertanzen, bereiten dem König Kopfschmerzen. Wesentlich weniger Töchter mit oder ohne zertanzte Schuhe bereiten uns modernen Menschen schon genügend Kopfweh, doch Dieter Hallerforden als König Karl hat sich im Märchen einer unvergleichlich schwereren Aufgabe zu stellen. Gut, daß er sich beim Regieren auf würdige Burgmauern und mächtige Türme verlassen kann...

Barbara Auer, die böse Stiefmutter mit ihrer Tochter Annabella (Pheline Roggan) machen Aschenputtel (Aylin Tezel) im Freilichtmuseum Detmold mit seinen Gänsen und Schweinen, aber auch auf dem prachtvollen Schloß Anholt das Leben schwer. Doch wie sagte die verstorbene Mutter stets: „Man darf nur nie den Mut verlieren“ - und so läßt sich Aschenputtel für den WDR geduldig piesacken und schikanieren. Alle wissen - Kinder wie Erwachsene: alles fügt sich. Und Aschenputtel wird die Herzensprinzessin des jungen Jägers. Ein gutes Herz ist auch das höchste Gut, das Mina sein eigen nennen kann. Bald wird das gute Herz das einzige Gut sein, daß ihr noch bleibt: Meira Durand als Mina zieht hinaus in die Welt, um ihre Eltern zu suchen. Dabei trifft sie, die doch schon so gut wie gar nichts hat, allerorten auf Armut und Elend. Sie hilft, wo sie nur kann. Wieder spielt ein tiefer undurchdringlicher Wald eine wichtige Rolle, und hier blinkt ein ganz besonderer Stern für Mina... Die Sterntaler beginnen zu fallen.

Die Waldlandschaften Baden-Württembergs und die tief in die Rheinland-Pfälzischen Wälder hineingeschmiegte Reichsburg Cochem nehmen Mina und ihre Märchengesellen auf, und der SWR sorgt dafür, daß das arme Kind nicht auch noch sein letztes Hemd herschenken muß. Tauchen wir also ein in die märchenhafte Winterwelt, wenn draußen die ungemütlichen Tage anbrechen und es zuhause im warmen Stübchen um so wohliger ist: mit vier neuen exzellenten Märchenfilmen wird uns sicher nicht langweilig werden...

Marieta Hiller

Was ist ein Kobold eigentlich?

In früheren Zeiten waren die Kobolde die Hausgeister. Sie lebten in den Bauernhäusern, und die Hausfrau war stets darauf bedacht, am Abend einen Topf mit Milch oder Suppe ohne Deckel auf dem Herd stehen zu lassen. Dies war die Speisung der Kobolde. Zum Dank sorgten sie dafür, daß im Hause alles in Glück, Wohlstand und Gesundheit lebte. Wehe aber, die Hausfrau deckte alle Töpfe zu! Dann schepperte es nachts fürchterlich, und die Kobolde hatten am nächsten Tag schlechte Laune. Was zu einigen unschönen Szenen und Schabernäcken geführt haben mochte... Als Kobold bezeichnet der Volksmund auch den Siebenschläfer. Denn auch er bevorzugt Ecken und Winkel, in die sonst kein Getier hineinkriechen kann. Zum Beispiel zwischen Dachziegeln und Sparren. Dort kann er für recht störenden nächtlichen Lärm sorgen. Auch Baumhöhlen in knorrigen alten Apfelbäumen liebt der Siebenschläfer. Vielleicht rührt daher die große Liebe der Kobolde zu Äpfeln...

Das Kleine Volk - von Hollen, Wichteln und Kobolden

Es gibt eine verborgene Welt, von der wir Menschen wenig wissen: sie existiert unter der Oberfläche, in stillen Weihern, in tiefen Bergesklüften oder zwischen Nebel und Dunkelheit. Böse und gute Wesen sind es, so wie es auch schlechte und gute Menschen gibt, denn die Welt der Kleinen Leute ist eine Spiegelung der Menschenwelt.

Es gibt Hollen und Perchten, Berggeister und Alben. Sie alle gehören zum kleinen Volk der Wichtel. Zu allen Zeiten gab es Berichte, Sagen und Märchen über das Kleine Volk, und das ist bis heute so geblieben. Selbst bei Harry Potter kann man nachlesen, daß Hauselfen frei werden können, sobald sie ein Kleidungsstück ihres Herrn geschenkt bekommen.
Die Zwerge werden in der Edda als den Schwarzalben zugehörig bezeichnet. Ihr Herrscher ist Alberich, und sie verfügen über eine der begehrten Tarnkappen, eigentlich ein Umhang, der seinen Träger unsichtbar macht. Alberich und seine Leute wachen über den Hort der Nibelungen, bis er ihnen mit List durch Siegfried entrissen wird. Zwerge lieben Schätze, Gold und Silber, Erze und Edelsteine. Sie horten sie tief in der Erde, wo niemals ein Sonnenstrahl hindringt, und erfreuen sich an ihrem Glanz. Auch über das Feuer herrschen die Zwerge.
Während Zwerge von gedrungenem kräftigem Körperbau sind, obwohl sie zur Gattung der Elfenartigen zählen, sind ihre zierlichen Verwandten, die Elfen oder Alben, reine Lichtgestalten und Naturgeister. Beide jedoch haben seit allerfernster Vergangenheit ihre Schwierigkeiten mit den Menschen. Der Freiheitsdrang der Hauselfen läßt einen kurzen Blick auf ihre Leiden erhaschen.

Die Erd- und Berggeister, seit Paracelsus als Gnome bekannt, aber auch die Hausgeister, Kobolde und Poltergeister sind daher in der Menschenwelt als schrullig und zuweilen gefährlich verschrien.
Doch die Menschen wissen auch die guten Eigenschaften dieser Wesen zu nutzen: seit alters her wurden die Hausgeister besänftigt, damit sie dem Haushalt gewogen sind, in dem sie im Verborgenen leben. Das sind die Kobolde, die auf dem Dachboden wohnen und zur Nachtzeit herunter in die warme Küche steigen, wo die bedachtsame Hausfrau stets ein Töpfchen Milch oder Brei auf dem Herd stehen läßt. Wehe, es lag einmal der Deckel auf dem Topf, so daß der Kobold sich nicht laben konnte! Das gab ein Gepolter...

Kobolde schützen Haus und Bewohner, doch treiben sie zu ihrem eigenen Vergnügen des öfteren harmlosen Schabernack mit ihnen. Das Wort Kobold stammt übrigens von Kobe und hold, was Haus oder Hütte und erhaben, gut bedeutet.
Doch in allerjüngster Vergangenheit vergaßen die Menschen immer mehr die alten Bräuche, die alten Hausgemeinschaften zerbrachen, der Herd wurde abends abgeschaltet, und Töpfe und Tiegel mit all den Kobold-Leckereien wanderten in den Kühlschrank. In manchen modernen Häusern mußten die Hausgeister sogar feststellen, daß man auf einen elektrischen Kobold umgestiegen war, der auf Knopfdruck einen Riesenlärm verursachen konnte und dabei Dinge verschwinden ließ. Da wurden die Kobolde sehr traurig und zogen sich wieder in die Natur zurück. Ursprünglich gehörten sie zu den Natur- oder Berggeistern, die sich in den gemütlichen Bauernhäusern ein neues Leben einrichteten, doch nun mußten sie erkennen, daß der Mensch für einen Naturgeist kein dauerhafter Wohngefährte sein konnte. Viele Kobolde aus dem märchenhaften Odenwald zogen sich ins Felsenmeer zurück, denn dort konnten sie weiterhin vielen Menschen nahe sein. Doch sie sind auf der Hut. Nur selten einmal zeigt sich einer der Kleinen Leute den Menschen dort.
In vergangenen Jahrhunderten gab es sogar Schiffskobolde - die Klabautermänner, und in Irland fühlen sich die Kobolde auch heute noch wohl: dort heißt man sie Leprechauns.

Nixen, Zwerge, Wichtel, Waldmännlein oder Landwichte (altnordisch: landvaettir) sowie die Albdrücke, Nachtmahren und Dunkel- oder Schwarzalben gehören ebenso zu dieser Gattung des Kleinen Volkes. Letztere allerdings sind dem Menschen ganz und gar nicht wohlgesonnen.
Dann gibt es noch die Heinzelmännchen, in der Mainzer Linie auch als Mainzelmännchen bekannt. Sie sind jedoch - ähnlich wie das bei Hunden und Wölfen ist - infantil geblieben, bedürfen ständiger Umsorgung und sind völlig harmlos. Deshalb mögen Kobolde es auch gar nicht, als Heinzelmännchen bezeichnet zu werden. Pumuckl beispielsweise wird da fuchsteufelswild.

Wie schlecht sich Fantasy-Filmemacher mit den geheimnisvollen Wesen der Kobolde auskennen, sieht man am Grünen Kobold in Spiderman. In vielen Filmen werden sie als hämische kleine grüne Gestalten dargestellt - was der Wahrheit auch nicht annähernd nahe kommt.
In Natura haben Kobolde keine grüne Hautfarbe, sondern ein rosiges Gesicht mit vergnügten Äuglein und einer ziemlich knubbeligen Nase.

Im englischen Sprachraum heißen Kobolde oft “goblins”, im französischen “lutin”, und das Element Kobalt leitet seinen Namen von den Kobolden ab, die ja in alten Zeiten mit dem Kleinen Volk, das in den Bergwerken arbeitete, in Verbindung standen. Und schon in jenen alten Zeiten trieben die Kleinen Leute ihren Schabernack mit den Menschen, indem sie reines Silber fraßen und dafür silberfarbene Erze ausschieden - daunter auch das Kobalt. Die Menschen konnten sich halt nie richtig erklären, warum man nicht einfach das schiere Silber in großen Brocken aus dem Berg holen konnte, sondern immer zunächst die Verunreinigungen herausbringen mußte.

Manche Menschen wurden im Laufe der Jahrzehnte den Zwergen immer ähnlicher: je länger eine Menschenfamilie Berge aushöhlte, desto kleiner wurden ihre Kinder. Das lag an der Bleivergiftung, denn bleiversetztes Wasser rieselte aus den Erzgängen und löschte den Durst der Unglücklichen. Niemals sahen sie die Sonne, gebückt mußten sie Erz gewinnen, und schon ihre Kinder mußten mit in die Tiefe, um die Erze hinaufzubringen. Diese Menschen überlebten oft das 30. Lebensjahr nicht - ganz im Gegensatz zu den Zwergen, die viele hundert Jahre auf dem Buckel haben konnten.

Für viele Menschen in heutiger Zeit gibt es deshalb gar keine Zwerge: sie glauben, daß diese ihre kleinwüchsigen gebeugten Verwandten aus den Bergwerken sind. Zumal diese auch noch eine besondere Kapuze trugen, den sogenannten Gugel, der den Kopf vor Steinschlag und die Schultern vor Nässe und Schutt schützten. Diese nun wiederum sahen den Koboldmützen verdächtig ähnlich...

Die Hollen gehören ebenso zum Volk der Kleinen Leute, sie bleiben jedoch gern für sich. Ihre Königin ist die Feen- oder Elfenkönigin, auch als Frau Holle bekannt. Ihr dienen sie mit Leib und Seele, und sie wohnen ganz im Verborgenen in Höhlen und Spalten unter Hecken und Bäumen, mit Vorliebe unter Holunderbäumen, die im Volksmund deshalb auch Hollerbusch genannt werden. Oft bewohnen sie auch uralte Hügelgräber. Deshalb glauben viele Menschen, dort gehe es nicht mit rechten Dingen zu. Frau Holle übrigens zeigte sich in jüngster Vergangenheit den Menschen: als alte Hutzel geistert sie durch den Odenwald, wo sie seit alters her ihre Sommerfrische nimmt. Doch niemals gab sie sich hier den Menschen zu erkennen - das tat sie nur an ihrem Heimatort am Hohen Meißner. Bis einmal ein Sommer kam: vor vielen vielen Jahren geschah es, daß man hie und da im Odenwald von ihr raunen hört - festgehalten wurden alle Sichtungen in der Ätherwelt des WeltWichtelWissen...

Typologie der Angehörigen des Kleinen Volkes

Wer ist das Kleine Volk? Kobold Kieselbart gibt Antworten: "In unzähligen Märchen, Sagen und Geschichten wird von ihm und seinen Angehörigen erzählt. Nun, ich kenne sie alle persönlich! Und hier verrate ich euch, wer sie sind, die Leute vom Kleinen Volk:

  • Erwachsene Kobolde wie ich: pumilus capitaneus argumentosus oder Ober-Klugscheißer-Kobold, lebt im Zauberwald und ist der einzige Angehörige des Kleinen Volkes, der sich noch mit Menschen abgibt. Die anderen sind sauer, weil sie im Müll der Menschen leben müssen.
  • kleine Kobolde: pumili nani breviculique quengelens oder besonders winzige quengelnde Kobolde, müssen noch viel lernen, z.B. in der Koboldschule: Blätterkunde, Waldtelefon, Tierspuren, Igel bürsten, Regenwürmer ringeln und vieles mehr...
  • weniger kleine Kobolde: ca. 8 Jahre, pumili infanti preparvuli iam crescendens oder winzige aber wachsende Kobolde, die schon die ersten Koboldfertigkeiten beherrschen wie kleine Sprünge mit dem Zauberwort, Schatz bewachen, der Hexe ihre Zutaten zum Zaubertrank verstecken...
  • pubertierende Kobolde: pumilus adolescans meckerans atque nervans - muß man nicht erklären, oder?
  • die sieben Zwerge: pumili waalkensii septemi alias Brummboss, Sunny, Cloudy, Tschakko, Cookie, Bubi und Speedy umsorgen ihr Schneewittchen genau so wie das die wirklichen Zwerge einst getan haben, als sie im kleinen Dörfchen Bergfreiheit im Kellerwald lebten und arbeiteten. Ihr könnt das Bergwerk heute noch besuchen!
  • Rumpelwichte: minutuli perspiciens rumpans lindgrenii oder winziger neugieriger polternder Wicht nach A. Lindgren; es gibt Menschen, die haben eine sehr enge Bindung an die Wesen des Kleinen Volkes. Astrid Lindgren, die gute alte Geschichtenerzählerin, gehört dazu. Mit Rumpelwichten, Graugnomen und Wildruden verkehrte sie auf vertrautem Fuß! Lest mal wieder ihre wunderschönen Geschichten...
  • Dreikäsehoch: salaputium tricasei altum - braucht keine Erläuterung. Gibt es bei Menschen und auch beim Kleinen Volk...
  • Stoppelhopser: aliquantulus stipulasaltantus - den kennt auch fast jeder, oft wird er auch Hosenmatz genannt...
  • Rasselbock: hircus crepitaculus odenwaldensis - hier ist Obacht geboten! Insbesondere nach dem Genuß alkoholischer Getränke in geselliger Runde könntet ihr euch sonst auf der Suche nach besagtem Rasselbock wiederfinden. Und ob ihn jemals jemand gesehen hat - ich verrat's nicht!
  • Krikkelkrakkel die Spinne
  • Schmutzfink - benimmt sich meist daneben...; aber über ihn spricht im Zauberwald sowieso keiner.
  • Waldschrat spiritus mirus admirabilis silvae oder wunderlicher verschrobener Waldgeist; Vorsicht: der Waldschrat ernährt sich mit Vorliebe von Kindern, die sich von ihrer Gruppe trennen, die vorneweg rennen oder hinterher trödeln, oder die abseits der Wege im Wald herumstromern...
  • Illwetrittsche vestigium figurae luminosae non existans oder "Fußtritt von nicht existierenden Odenwälder Lichtgestalten". Auch sie findet nur der, der sich von seinen fröhlichen Zechkumpanen dazu anstiften läßt. Oder auch nicht...
  • Wildruden rudae asperae sublimae lindgrenii oder wilde Luftgeister nach A. Lindgren, siehe auch Rumpelwichte.
  • Felsenmeer-Riesen cyclops montes mediales germanii spec. Felshocker / Steinbeißer
    - Riese der germanischen Mittelgebirge; einst im Paläozoikum trieben sie auf einer Kontinentscholle hier an, ließen sich auf Laurussia nieder und lebten hier quietschvergnügt. Bis es zu einer gewaltigen Erdbewegung kam und der Rheingraben einbrach. Natürlich waren die Riesen mit ihren Quadratlatschen nicht ganz unschuldig daran. Doch bald schon bekamen sie ihren großen Streit, und dabei entstand so ganz nebenbei - ihr wißt es ja - das Felsenmeer.
  • Norwegischer Troll
    cyclops iterseptemtriones boreales oder Riese der Nordwege; wo es ein Dreivierteljahr lang dunkel ist, wo tiefe Höhlen und Klüfte sich durch das Eis und die frostigen Berge ziehen, dort leben die Trolle. Ihre Sprache ist nicht leicht zu verstehen, doch glücklicherweise wird man auch nicht allzu oft von einem Troll angesprochen.
  • Gnome daemonium montis paracelsii oder Bergunwesen nach Paracelsus; Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus - was will man auch von jemand erwarten, der einen solchen Namen führt! - war ein Alchimist. Die Viersäftelehre hat er erfunden, nicht zu verwechseln mit dem Vielsafttrank aus Harry Potter. Kein Wunder, daß er da des öfteren mit Dämonen zu tun bekam. Dabei sind Gnome eigentlich ganz nette Gesellen...
  • Graugnome daemonium canens lindgrenii oder "Graues Bergunwesen nach A. Lindgren; siehe auch Rumpelwichte. Die Graugnome huschen im Laubwald herum, sind eigentlich recht niedlich und tun niemandem etwas zuleide.
  • Ach ja, und dann sind da noch die Knispelmäuse: musculi fagu... jocipumilli knispulentes - sie huschen durch das Laub im hohen Buchenwald und ernähren sich ausschließlich von Bucheckern (was ja noch kein Problem wäre) UND Koboldwitzen (was ihr Auftreten recht lokal begrenzt). Gesehen hat sie übrigens noch niemand außerhalb des Kleinen Volkes, aber wenn ihr ganz ganz leise seid, dann hört ihr im Buchenwald so ein feines kleines Knispelgeräusch - das sind sie!
  • Vorsicht vor den Steinmännchen: sie sind besonders heimtückisch! Harmlos stehen sie im Wald oder auf hochgelegenen Almwiesen, in steinigem Bergpfad und an Gipfelgraten. Doch Steine sind etwas ganz Eigenartiges: man kann sie nicht finden - sondern sie finden dich! Bist du auch Kobold, Zwerg, Riese oder Mensch - sie finden dich. Unfreundliche Wesen werden geärgert. So kann es geschehen, daß du auf einer Wanderung in unwegsamem Gelände ein Steinmännchen entdeckst. "Wie schön, hier hat ein anderer Wanderer vor mir schon einen Wegweiser aufgetürmt!" denkst du. Doch kaum bist du vorbeimarschiert, fängt es im Stein zu kichern an, und flugs springt das Steinmännchen zu seiner nächsten Station auf deinem Weg, wo es dir wieder auflauert. Die kleinen Plagegeister führen dich so oftmals Stunden um Stunden an der Nase herum, bis du dann endlich aus dem Bergwald wieder herausfindest. Wagst du dich wieder hinein?

Nun, so denke daran, bring gute Laune mit, sei freundlich und fröhlich! Nun wißt ihr, mit wem ihr es zu tun habt - sollte es im Zauberwald mal gruschbeln und graschbeln, knispeln und knuspeln, kichern und zischen! Euer Kobold Kieselbart!"

Der Menschenbeauftragte des Kleinen Volkes: ein Kobold

„Drei Tage will ich dir Zeit lassen, wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du reich belohnt werden!“ So sprach Rumpelstilzchen zur armen Müllerstochter. Ein garstiger Wicht war das Rumpelstilzchen, wollte es doch der schönen Braut des Königs ihr Kind wegnehmen. Und als das arme Mädchen dann auch noch seinen Namen erriet: „Schnürbein, Rippenbiest, Hammelswade... oder heißest du etwa Rumpelstilzchen?“ - da riß sich das Männlein vor Zorn selbst mitten entzwei.
So lustig und skurril diese Figur auch ist, so ist das Rumpelstilzchen doch kein Vorbild für den witzigen Kobold Kieselbart, der im Felsenmeer im tiefen Odenwald lebt. Kieselbart ist ein Vermittler, ein Freund der Menschen. Von den geheimen Wesen des Kleinen Volkes wurde er dazu bestimmt, sich um die Menschen zu kümmern, der Menschenbeauftragte des Kleinen Volkes ist er also.
Leise und ohne erhobenen Zeigefinger nimmt er die Menschen mit in seine Zauberwelt, zeigt ihnen das verborgene Leben der Tiere, erzählt vom Entstehen der Felsen, der Pflanzen und aller Wesen, die auf Erden leben. Wer mit Kieselbart im Zauberwald war, der reißt keine Pflanzen mehr aus, zertritt keinen Regenwurm und läßt keinen Abfall mehr dort liegen - und so finden Menschen und Kleines Volk einen gemeinsamen Weg, ihre Welt zu schützen.
Dabei weiß Kieselbart von Wesen und von Begebenheiten zu berichten, die märchenhaft und fantastisch klingen. Wer sich darauf einläßt - Große wie Kleine - der erlebt ein paar ganz besondere Stunden, die er nicht schnell wieder vergißt.
Doch ähnlich wie schon bei Allerleihrauh im Märchen, so steckt auch in einem Kobold mehr als nur ein Wesen des Kleinen Volkes. Gemeinsam mit seiner menschlichen Gehilfin Marieta Hiller erdenkt er sich stets neue Erscheinungen, um die Menschen zu verblüffen, um ihre Aufmerksamkeit auf die wichtigen Dinge zu lenken. Und so verzaubert Kieselbart seit vielen Jahren nicht nur Erwachsene auf Erlebnistouren in eine Welt, die sie so noch nie gesehen haben, sondern auch Kinder mit seinen Märchen, die er an immer wieder überraschenden Orten zu erzählen weiß.
Und so helfen sich Menschen und Kobolde gegenseitig, indem sie sich ihre Welten zeigen. Ohne seine menschliche Gehilfin könnte nämlich auch Kobold Kieselbart nicht so viele Menschen erreichen. Denn für allerlei wichtige Dinge zuständig ist Marieta Hiller zuständig: sie sucht aus Archiven und Büchern spannende Geschichten aus ihrer Region, trägt Heimatkundliches zusammen, schreibt Altes und Neues getreulich auf und fügt so Wort für Wort für Kieselbart aneinander.

Große Aufregung beim Kleinen Volk im Zauberwald

Im Zauberwald wird Rat gehalten: der Müll wächst den geheimnisvollen Wesen die hier leben über den Kopf. An einem verschwiegenen Ort, auf einer sonnigen Lichtung inmitten hoher Buchen und grauer Felsen, treffen sich alle Angehörigen des Zauberwaldvolkes zur Beratung. Sie alle aber sind ratlos, was man gegen diesen ganzen Müll der Menschen im Zauberwald tun könnte. Da liegen Papiertaschentücher, Coladosen, Kitkatverpackungen, Bierflaschen (auch kaputte!), alte Batterien, ganze Einkaufstüten voller Picknickverpackungen - als könnte man die nicht auch wieder mitnehmen, wenn man sie schon voll hierhergeschleppt hat! Das Befremdlichste aber sind die Plastiktüten, in die die Leute neuerdings ihre Hundehäufchen einpacken. Ein Hundehäufchen im Wald ist nach drei Wochen nicht mehr auffindbar, und anständige Hunde bzw. ihre Besitzer machen ihr Geschäft auch nicht mitten auf den Weg oder dorthin wo Kinder spielen. So eine Plastiktüte aber liegt 500 Jahre lang im Zauberwald und erinnert die Angehörigen des Kleinen Volkes jeden Tag daran, daß hier einst zu jener Zeit als die Menschen noch nicht an ihrem eigenen Dreck eingegangen waren, ein netter Mensch sein Hundehäufchen eingepackt hat. Die Geschenke der Menschen an das Kleine Volk sehen halt wirklich um einiges anders aus als die Geschenke des Kleinen Volkes - wie die aussehen, das könnt ihr nachlesen in Grimms Märchen! Das meint Euer Kieselbart Für den großen Rat des Kleinen Volkes

Marieta Hiller, vor langer langer Zeit...

Es war einmal...

... eine Geschichte, die wurde oft und oft erzählt. Von Mund zu Mund wanderte sie, und mit der Zeit schmückte sie sich mit allem, was ihr unterwegs begegnete. Bald wollte sie nicht mehr nur eine Geschichte sein: ein Märchen wollte sie werden. Und so trennte sie sich von ihren Geschwistern, den Sagen, Mythen und Legenden und zog hinaus in die Welt, um dort als »einfache Form« über viele Jahrhunderte mal traurig mal glücklich weitergegeben zu werden. Jedes Märchen ist ursprünglich geprägt von mündlicher Überlieferung - wer findet nicht in seiner Erinnerung an die Kindheit einen fesselnden Märchenerzähler! - zudem erzählt es stets von volkstümlichen Begebenheiten in einem festen Rahmen aus moralischen Werten.

Später unterscheidet man zwischen Volksmärchen - das sind die Schönen, die uns als Kind erzählt wurden, und Kunstmärchen. Viele Schriftsteller, auch hochkarätige, haben sich das Volksmärchen als Grundlage für eigene fantastische Erzählungen gewählt. Der Kleine Prinz von Antoine de Saint Exupery ist eines der bekanntesten Beispiele. Kunstmärchen sind auch nicht immer für Kinder erzählt.
Die Volksmärchen leben also wohl schon solange in unseren Herzen, wie wir unsere Sprache und damit auch unser Moralgefühl haben.

Sie dienen als einfache Mittel, um bestimmte Werte zu erklären. Da sie oft über Jahrhunderte mündlich weitererzählt wurden, sind sie recht einfach geformt: keine Schachtelsätze à la Thomas Mann quälen uns, wir müssen nicht mehrere Erzählstränge und Blickwinkel mitverfolgen, und wir brauchen uns keine Gedanken über historische Wahrhaftigkeit zu machen. Denn Märchen enthalten etwas Allgemeingültiges, Immerwährendes, daher sind sie auch in einer zeit- und raumlosen Welt angesiedelt, wo Typen anstelle von ausgefeilten Charakteren miteinander umgehen. Deshalb beginnen die meisten Märchen mit “es war einmal...”

Zum Ausgleich dafür, daß wir nicht erfahren, wann und wo in einem Märchen etwas geschieht und wer dafür verantwortlich ist, erhalten wir aber etwas ganz Besonderes: das Märchenhafte eben. Tiere und Pflanzen können sprechen, Wünsche werden erfüllt, zauberhafte und unerklärliche Dinge gehen vor...

Eine ganz alte Form von Märchen sind die Tierfabeln, die in verschlüsselter Form bestimmte menschliche Grundwerte vermitteln. Die ältesten Tierfabeln stammen aus der Zeit der alten Griechen, und am bekanntesten sind sicher die Fabeln des Römers Äsop. Jeder kennt wohl die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind... Aus den weiblichen Vogelgestalten der Tierfabel entstanden schließlich die Feen, die durch so viele Märchen geistern.

Ins 8. Jahrhundert reichen die Märchen aus 1001 Nacht zurück, diese beliebte Sammlung orientalischer Märchen, die die Königstochter Scheherazade ihrem Vater jede Nacht erzählt, um ihn davon abzuhalten, sie und unzählige weitere Jungfrauen zu töten. Denn dann würde er ja keine weiteren Märchen mehr zu hören bekommen. Die Macht der Märchenerzählerin siegt hier über die Launen eines allmächtigen Königs. Erst im 16. und 17. Jahrhundert wurden diese Märchen - ursprünglich waren es auch nur 1000 - in Ägypten niedergeschrieben. Sie sind also zuvor über neunhundert Jahre mündlich weitererzählt worden, und kein eines ist verloren gegangen! Das müssen also fast 4000 Generationen emsiger Märchenerzähler geleistet haben...

Niedergeschrieben wurden auch die Märchen in unserem Kulturkreis: im 16. Jahrhundert begann man, diese oft wunderschönen aber auch grausamen Geschichten zu sammeln und - mit Hilfe der neu erfundenen Buchdruckerkunst - zu verbreiten. Denn bevor Gutenberg die Kunst des Druckens entwickelte, konnte das geschriebene Wort nur durch Abschreiben per Hand festgehalten werden und war entsprechend kostbar.
Bevor aber die Gebrüder Grimm im Jahr 1812 ihre gesammelten Kinder- und Hausmärchen veröffentlichen konnten, sammelten bereits viele Schriftkundige die alten mündlichen Erzählungen, und ein jeder tat das Seine dazu - wie auch zuvor die Erzähler. Und so spiegelt ein Märchen immer auch die Zeit wider, in der es erzählt oder niedergeschrieben wurde. Dasselbe Märchen, von einem Erzähler des 14. Jahrhunderts würde es sich ganz anders anhören als würde es von den Brüdern Grimm erzählt! Auch Scheherazades Erzählungen erfuhren irgendwann auf ihrem Weg durch die vielen Münder ihrer orientalischen Erzähler ein neues Wertegewand: sie wurden schon sehr früh islamisiert, denn ursprünglich kamen sie aus Indien.

Unsere Märchen übrigens kamen aus den verschiedensten Gegenden der Welt zu uns: aus germanischer und keltischer Zeit wie zum Beispiel Frau Holle, aus dem Orient wurden Märchen mitgebracht von Überlebenden der Kreuzzüge, später kamen Märchen aus Übersee von Indianern und Eskimos dazu, auch die Traumzeit der australischen Aboriginees fasziniert uns.
Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts interessierte man sich besonders für alles “Ethnologische”, also aus fremden Kulturen Stammende: Web- und Strickmuster, Kunsthandwerk, fremde Riten - und Märchen.

Auch heute wieder liegen Märchen im Trend: in schlechten Zeiten sind sie nützliche Fluchtwege aus der Realität. Dort ist alles einfach, ein jeder hat seinen Platz, an den er gehört. Es gibt klare Regeln und sichere Zufluchtsorte (zum Beispiel Schutzzauber). In jedem Märchen wirken Urbilder der Menschheit, die sogenannten Archetypen. So wie wir heute - eigentlich unbegründet - Angst vor Spinnen haben, liegt die Wurzel dieser Angst in einer archaischen Erfahrung unserer ältesten Urahnen, die mit Spinnen Böses erlebten. So wie ein Märchen von Generation zu Generation weitererzählt wird, so wird auch diese archaische Erfahrung “vererbt” und bleibt uns bis heute erhalten. Auch Drachen sind ein schönes Beispiel. Drachen hat es nie gegeben, und doch leben sie in jeder Kultur! Ein Archetypus eben.

Und wie schön läßt sich über das Unglück von Hänsel und Gretel oder Schneewittchen schmökern, wenn es draußen in der Welt eine Firmenpleite nach der anderen gibt. Das Elend der armen Märchenfiguren gibt uns neue Kraft, um in der wirklichen Welt zu leben. Nicht unwesentlich ist dabei sicher auch, daß die meisten Märchen gut ausgehen... Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Märchen: eine zeitlose Angelegenheit - von der Geschichte am Feuer bis zum Avatar

Schon unsere Vorfahren in grauer Urzeit erzählten sich am Feuer Geschichten von seltsamen Begegnungen, von geheimnisvollen Wesen und übernatürlichen Erlebnissen. So wurden über viele Jahrhunderte die Märchen von Mund zu Mund überliefert, und jede Erzähler-Generation fügte nach eigenem Gutdünken etwas hinzu, ließ anderes weg und paßte die Begebenheiten ihrer Zeit an.

Später, als die Märchen schon aufgeschrieben wurden, merkten die Erzähler, die mit besonders viel Fantasie begabt waren, daß man sie wundervoll ausschmücken konnte. Man mußte nicht mehr alles, was erzählt werden sollte, im Kopf behalten, sondern konnte es niederschreiben. So entstand Raum für Schnörkel, für barocke Eskapaden, fantastische Welten konnten entstehen.

Manch ein Märchenerzähler brachte - wie Hans Christian Andersen - vorsichtig seine Gesellschaftskritik hinein, manch anderer entstieg völlig der realen Welt und wandelt seither in der Märchenwelt. Ohne die Erfindung der Buchdruckerkunst gäbe es heute keine langen Romane - und keine fantastischen Märchen!

Eben diese Märchen, auch Fantasy genannt, sind es, die uns kleine Fluchten erlauben. Fluchten aus der Realität, Fluchten in eine andere Welt. Für manch einen wuchert diese kleine Flucht aus bis hin zum Second Life. Denn nicht mehr in Büchern nur leben heute die Märchenwelten, vor allem Computerspiele haben sie inzwischen bevölkert - als den Lebensraum, der ideale Bedingungen für ihre Bedürfnisse bietet. Der Märchenfreund ist nicht mehr nur Leser, der die Nase in ein spannendes Buch steckt, nein er wird zum Mitspieler: ein Avatar kann der Mensch nun sein, selbst in eine Märchenfigur schlüpfen und die Welt aus ihren Augen sehen!

Doch viele Menschen haben bereits erfahren, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Lesen einer Geschichte und einem Film. Was über die Mattscheibe flimmert, sind sicht- und hörbar festgelegte Bilder, für alle Zuschauer genau gleich. Liest man aber ein Buch, so entsteht in jedem Kopf ein anderes Bild: mal trägt die Prinzessin die Züge einer lieben Verwandten, mal zeigt sich die Hexe als verhaßte Nachbarin, und wer hat nicht schon in eingebildeten Grafen reale Politiker entdeckt!

Des Rätsels Lösung ist die Fantasie. Beim Lesen bleibt ihr genügend Raum, ein ganz eigenes Bild zu schaffen. Und so entsteht aus ein und demselben Märchen ein vielfältiges Spektrum an Vorstellungen, und ein jeder Mensch erlebt sein eigenes Märchen. Welch ein Schatz! Und deshalb, liebe Märchenfreunde: vergeßt über all den wunderschönen Fantasyfilmen das Lesen nicht! In Büchern ist nämlich die wahre Welt der Märchenwesen...

Marieta Hiller, geschrieben für die Zeitschrift Märchenzauber vor langer langer Zeit...

„Ei wie allerliebst und fein komm ich daher! Eine Elfe vom Hulduvolk auf der Eisinsel hat mich geherzt und geküßt - deshalb ist auch mein hübsches gelbes Kleidchen etwas zerknittert. Aber wer wollte sich schon beschweren, wenn er von einer Elfe geküßt wurde! Seht her, hier habe ich noch eine Prise Elfenstaub - goldgelb rieselte sie auf meinen Rock.“

So wisperte es zart im dichten Grase, für unsere Menschenohren kaum zu vernehmen. Doch wer - wie ich - stille hält und auf das zu lauschen versteht, was sich im letzten Vollmondgespinst vor Sonnenaufgang auf der Zauberwiese, gleich hinter dem Gruselwald am Fuß der Glasberge, so tut...

Da kribbelt und krabbelt es, und wenn sich der blaue Nebel der Mondmilch hebt, wenn die ersten Strahlen der warmen Sonne ihn zerwehen, dann entdeckst du Menschlein, allerlei Wundersames dort! Geflügelte Wesen falten ihre feinen Flatterflügel zusammen und kuscheln sich ins Knospennest, um die durchwachte Nacht im Schlaf zu vergessen. Kein Sonnenstrahl wird sie stören, darüber wacht die Löwenzahnfee.

Ein emsiges Gewimmel herrscht in dieser frühen Stunde: die einen legen sich müde zu Bett, die andern kriechen verschlafen hervor. Und seht nur: unser Islandmohnkind! Wie es sich reckt und streckt, wie es sein gelbes Kleidchen glattstreift und die süßen Träume von der Island-Elfe aus den Augen reibt.

„Du? Allerliebst und fein? Daß ich nicht lache!“ - wer ist das denn? Isafold - denn so heißt unser Islandmohnmädchen - wendet sich erstaunt in alle Himmelrichtungen. „Hier oben, schau mal herauf!“ tönt es da. Und wirklich: über ihrem zerknitterten gelben Kleidchen schwebt eine rote Dame. Knallrot, mit funkelschwarzen Augen. „Wer bist du denn?“ „Ja, kennst du mich denn nicht? Ich bin die Königin der Kornfelder! Ich leuchte aus den reifen Ähren, ich tanze mit den blauen Kornblumen und mit der duftenden Kamille! Ich bin die noble Frau Klatschmohn!“ Und mit einem eleganten Nicken ihres Köpfchens deutet sie eine Verbeugung an. „Warum lachst du mich dann aus? Schau dich an: dein rotes Kleid ist auch ganz zerknittert!“ wispert Isafold schüchtern. Doch Frau Klatschmohn hat sich bereits wichtigeren Dingen zugewendet.

Ein dicker schwerer Brummselkäfer nimmt sich der armen Isafold an, klappt seine vielen Beinchen unter sich, schwänzelt noch einmal mit dem Hinterteil und beginnt dann, sorgfältig seine Fühler zu putzen. Nun ist es aber so, daß dicke schwere Brummselkäfer - anders als viele Menschen - zwei Dinge zugleich tun können. Und so putzt sich der Käfer und spricht auch mit Isafold. „Ärgere dich nicht über sie. Sie ist sehr eitel. Doch alle Eitelkeit ist futsch, sobald die Sonne ihre beste Tageszeit hinter sich hat, glaube mir.“ Die kleine Islandmohnmaid blickt sich verwundert um und beugt sich dann zu dem Brummselkäfer hinunter. Der nämlich hat durch das dauernde Fühlergeputze eine etwas undeutliche Aussprache. „Weißt du,“ nuschelt er weiter, „ihre Verwandschaft ist auch nicht die Beste. Schlafmohn , ts ts...“ „Schlafmohn?“ Wer ist denn das nun schon wieder?“ fragt Isafold. „Ein eitler Bursche, kommt stolz daher in seinem rosa Fummel, und brüstet sich auch noch damit, daß aus ihm Opium gewonnen wird!“

„Opium!“ raunt es da rings um in der Wiese. Isafold und der Brummselkäfer blicken sich um und schauen in ungefähr siebenundsiebzig Augenpaare, die gespannt aufgerissen sind.

„Ich weiß was!“ zirpt es schon aus der dritten Reihe, wo ein Heimchen sitzt und im Zirpen innehält: „Opium, das nehmen die Menschen, und dann geht es ihnen nicht gut! Seltsame Geschöpfe, die Menschen!“

„Mohn macht dumm!“ ruft da eine andere Stimme, die einer uralten Eule gehört, die von all dem Gehusche und Gezirpe nicht schlafen kann. Sie blinzelt schläfrig, fängt aber sogleich an, aus ihrer Jugend zu erzählen. „Seltsam ist gar kein Ausdruck! Die Menschen wissen einfach nicht, was sie wollen. Da nehmen sie Mohn zu sich, und zugleich behaupten sie, er macht dumm... Das hab ich selbst gehört, von einer uralten Menschenfrau, die schon ganz verhutzelt war. Muß gewesen sein, als ich gerade flügge wurde...“ Die Eule verdreht den Kopf einmal rund herum und wieder zurück und murmelt weiter. „Einem Menschenkind, das keine Ruhe gibt, steckten sie damals wohl einen Mohnzuzzel in den Mund!“ „Was ist ein Mohnzuzzel?“ will jetzt aber Isafold wissen, denn sie kommt ja aus Island, wo es so etwas wohl nicht gibt. „Labbeduddel, Mohnpleps, Mohnzuzzel - ich hab früher viel darüber gehört. Aber Mohn macht gar nicht dumm, Mohn macht müde. Und die Menschenkinder nuckelten an ihrem Labbeduddel und wurden ganz schläfrig. So waren sie viel besser zu beaufsichtigen, denn die Menschen müssen ihre Kinder immerzu beaufsichtigen - furchtbar.“ Die Eule schüttelt unwillig ihr Gefieder.

„Übrigens,“ läßt sich da die hochwohlgeborene Stimme von Frau Klatschmohn vernehmen, „übrigens: der, über den ihr hier herzieht, der schickt mir noch heute seine Nichte hierher. Freundliche Umgangsformen und Wiesenkunde und Morgennebeltrinken soll sie bei mir lernen, denn in seinen Kreisen sei es nicht gut Aufwachsen für ein junges Schlafmohnkind. Ich hoffe doch sehr, daß ihr euch zu benehmen wißt!“

„Ui!“ tönt es ringsum. Der Brummselkäfer aber, der schon viel gehört und gesehen hat, zieht ein letztes Mal seine Fühler durchs Maul und nuschelt: „Na dann wollen wir das Tausendschönchen mal begrüßen.“

Da knistert es im hohen Gras, und zwei zarte Ärmchen schieben die Halme auseinander, ein Köpfchen streckt sich hervor und blickt mit fröhlichen Augen um sich. „Hallo! Wer seid ihr denn alle? Ich bin Somnifera!“ ruft das hübsche Kind mit leuchtend rosafarbenem, wenn auch zerknitterten Kleid. Lustig fliegen die beiden hellen Zöpfe um ihren Kopf, als Somnifera höflich vor allen Anwesenden knickst. Sprachlos glotzen, blinzeln, gucken oder lugen siebenundsiebzig Augenpaare und noch das von Isafold und dem Brummselkäfer auf das rosenfarbene Wesen. „Jetzt guckt nicht so. Ihr seid nach dem Aufstehen sicher auch ein bißchen verknittert. Ihr seid halt nur schon länger wach als ich,“ und damit gähnt Somnifera ausgiebig. „Du bist...“ heben gleichzeitig Frau Klatschmohn und Isafold an, und der Brummselkäfer ergänzt „... die Nichte vom Herrn Schlafmohn!“ „Ja, die bin ich. Und ich kann euch sagen, dort wo ich herkomme, dort ist es nicht schön. Den ganzen Tag auf einer Plantage in Reih und Glied stehen und wachsen, wachsen, wachsen. Und wenn wir dann endlich fertig sind mit Wachsen, kommen Menschen und quetschen uns aus. Schlimme Dinge tun sie mit unseren Köpfen: Morphin, Codein, Heroin stellen sie aus uns her, und damit tun sie dann schlimme Dinge mit anderen Menschen! Es ist ganz schrecklich!“ Schon treten helle Tränen aus den Äuglein von Somnifera, und sie weint bitterlich.

„Die Menschen! Hab ichs mir doch gleich gedacht. Unglaublich ist das,“ schimpft die uralte Eule, die natürlich noch immer kein Auge zubekommen hat bei diesem Gezirpe, Gekrabbel und Gejammer.

„Wir sollten ihnen eine Lehre erteilen,“ bestimmt der Brummselkäfer energisch. „Dort wo ich herkomme, aus dem weiten Land jenseits des großen Meeres, am Fuße der blauen Berge, bei den Tsalagi, dort gibt es“ „Wer sind denn die Tsalagi?“ unterbricht Isafold ganz ungeduldig, denn hier wird über ein Land jenseits des großen Meeres gesprochen, wo auch sie einst herkam.

„Wo du herkommst, Isafold, von dort aus ist es noch zweimal so weit bis zu jenem Ort, von dem ich erzählen möchte. Die Tsalagi sind ein sehr kluges Menschenvolk, doch leider leben die Klugen oft nicht lange. Bei den anderen, nicht so klugen Menschen nennt man sie auch Cherokee. Jedenfalls“ „Und die schönen blauen Berge? Sind es Lavahügel und Vulkankegel, aus denen heißer Dampf kommt?“ Isafold hüpft vor Aufregung herum. „Unterbrich mich nicht dauernd,“ grummelt der Brummselkäfer. „Es sind keine Lavahügel, und auch keine Vulkankegel. Sie sind älter als die meisten Gebirge auf diesem Erdball, und - wie gesagt - an ihrem Fuß leben die Cherokee oder Tsalagi. Und die,“ und damit funkelt er die arme Islandmohnblume unwillig an, „die haben eine uralte Geschichte. Der Rat der Tiere beschloß dort nämlich eines Tages, die Menschen zu bestrafen, weil sie nicht mehr im Einklang mit der Natur lebten. Jedes Tier übertrug eine Krankheit auf die Menschen, und fortan mußten die Menschen vielerlei erdulden. Die Pflanzen aber, die davon hörten, fanden das doch gar zu arg. Und so beschlossen sie, den Menschen für jede Krankheit ein Heilmittel zu geben. Eine jede Pflanze gerade so, wie sie es konnte. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: weise sollten die Menschen sein, weise in der Anwendung der Heilmittel. Denn was gesund machen kann, das kann geradesogut auch krank machen. Allein in der Menge eines jeden Heilmittels der Pflanzen liegt seither die Macht, zu heilen oder zu schaden. Aber ach, die Menschen waren nicht weise. Man sieht es ja an deiner Sippschaft, liebe Somnifera!“ seufzt der Brummselkäfer nach dieser langen Rede, und nicht einmal die neugierige ungeduldige Isafold hat ihn noch einmal unterbrochen.

„Vielleicht sollten wir so etwas auch auf unserer Seite des großen weiten Meeres einführen,“ murmelt schlaftrunken die uralte Eule, bevor sie endgültig ihren Kopf unter den Flügel steckt und behaglich zu schnarchen beginnt.

„Gleich morgen werden wir sie alle zusammentrommeln,“ ruft die vornehme Frau Klatschmohn, denn wer vornehm ist, der hat auch etwas zu sagen. „Au fein,“ zirpt das Islandmohnkind, „dann wird ja doch noch alles gut für dich!“ und nimmt die arme Somnifera in den Arm, so daß ihr rosenfarbenes Kleidchen noch ein bißchen mehr verknitterte. Somnifera reibt sich die Tränen aus den Augen, schluchzt noch einmal, und seufzt dann „ach das wäre schön!“

Da pufft es, und Isafold blinzelt verwundert ringsumher. Ein milchweißer Nebelhauch zieht noch über die Grashalme, die sie umgeben. Darüber aber scheint schon hell und warm die Sonne, und ihre Strahlen funkeln goldgelb, rosenrot und leuchtendrot in den Tautropfen. „Hab ich sooo lange geschlafen?“ fragt sie sich. Und sie erinnert sich an ihren schönen Traum, und daran daß es höchste Zeit sei, den Rat der Tiere und den Rat der Pflanzen einzuberufen, hier im Land diesseits des großen weiten Meeres, gleich hinter dem Gruselwald, am Fuß der Glasberge.

Ich aber, als heimlicher Gast in ihrem Traum, stehle mich leise davon und schwöre mir, daß es allerhöchste Zeit sei, den großen und kleinen Menschen davon zu erzählen.

Marieta Hiller, geschrieben für die Zeitschrift "Märchenzauber" vor langer langer Zeit...

 

Vergessen... Vergessen!

Es war einmal ein Kobold, sein Name war Lukibold. Am Tag versteckte er sich wie die meisten anderen Kobolde vor den Menschen. Am Abend schlüpfte er aus seinem Versteck und stiefelte durch den Wald. Wenn er etwas Essbares fand, teilte er es mit seinen besten Freunden. Doch mit der Zeit wurde Lukibold ein bisschen vergesslich.

Eines Abends fand Lukibold einen saftig grünen Apfel, doch er vergaß, den Apfel mit seinen Freunden zu teilen. Ein anderes mal vergaß er, dass er Eichhörnchenzähneputzdienst hatte. Aber das war nur der Anfang und bald wurde es mit seiner Vergesslichkeit noch viel schlimmer. Erst vergaß er die Namen seiner Freunde und später wusste er überhaupt nicht mehr, dass er welche hatte.

„Was wollt ihr denn?“, fragte er, als sie ihn zum Spielen abholen wollten. „Aber Lukibold! Wir sind es doch deine Freunde!“, riefen sie entsetzt. „So“, sagte Lukibold und schämte sich, dass er das vergessen hatte. 

Einmal lief er aus dem Wald hinaus ohne auf die anderen Kobolde zu warten. Als es dämmerte, fand er den Weg nach Hause nicht mehr. Natürlich hätte er sich mit seiner roten Nase nach Hause wünschen können, doch das hatte er auch schon verlernt. Er irrte umher, bis es heller Tag wurde. Und auch dann versteckte er sich nicht und alle Tiere die ihn sahen wunderten sich.

„Was ist los? Suchst du etwas?“, fragte ein Fuchs. „Ich weiß nicht“, antwortete Lukibold, „Vielleicht such ich etwas, aber ich habe wohl vergessen was ich suche.“ „Wenn du nicht weißt was du suchst, dann kann ich dir natürlich auch nicht helfen.“, antwortete der Fuchs und lief weiter. Ein Eichhörnchen machte vor dem Kobold ein Männchen und sagte:„Du bist aber ein lustiger Kerl. Kobolde verstecken sich doch am Tage.“

„Wirklich?“ fragte Lukibold, „Das habe ich wohl vergessen.“ „Du solltest dir ein schönes Plätzchen suchen und dich verstecken.“ Dann drehte es sich um, sprang mit ein paar Sätzen zum nächsten Baum und kletterte hinauf. Lukibold sprang sofort hinterher und als das Eichhörnchen das merkte, rief es: „He, was machst du denn? Kobolde können doch nicht so hoch auf Bäume klettern!“

„Wirklich?“, fragte der Kobold, „das habe ich dann wohl vergessen!“ „VERGESSEN!“, antwortete das Eichhörnchen, „Wie kann man das denn vergessen? Jedes Tier im Wald weiß, dass Kobolde nicht auf Bäume klettern können.“ Doch Lukibold kletterte höher und höher bis er mit dem Eichhörnchen auf einem Ast saß. Das Eichhörnchen war völlig durcheinander, es stotterte: „Wa...was...was machst du da?“ „Das Gleiche wie du!“, antwortete Lukibold. „Aber du bist doch kein Eichhörnchen, du bist ein Kobold!“

„Das kann nicht sein.“, entgegnete Lukibold, „ Vorhin hast du gesagt, Kobolde können nicht auf Bäume klettern. Ich sitze neben dir auf einem Baum, also kann ich  kein Kobold sein. IST DOCH KLAR, ODER?!“

Diese Geschichte ist von Isabold* – Die eigentliche Geschichte ist von MANFRED MAI und handelt von einem Igel. Naja, und so wurde schwupp die wupp aus dem Igel ein Kobold – und aus dem Kobold ein Eichhörnchen!
*Isabold war 9 Jahre alt, als sie mir diese Geschichte erzählte...

Zur Novemberzeit, als böse Winde wehten und kalte Schauer näßten,
da mußte ein armer Köhlersjunge einmal hinunter ins Dorf,
für seine Mutter ein Säcklein Getreide mahlen zu lassen,
das sie im Sommer heimlich vom Felde gelesen hatte.

Auf seinem Weg dorthin mußte er über den Mühlbach vor dem Dorf,
und schon hörte er das mächtige Mühlrad rauschen und ächzen.
Da sprang ein Fischlein aus dem Wasser und rief
„hilf mir! Die Mühle will mich zerhacken!“

Der arme Junge dachte sich: „die Hilfe ist fast geschenkt!“
und fing das Fischlein aus dem Mühlbach.
„Nun setz mich sogleich nebenan im Bache ab,
ich will es dir reichlich lohnen,“ sprach das Fischlein, und so geschah es.

Der Köhlersjunge dachte noch bei sich:
„eigentlich hätte ich das Fischlein auch der Mutter
bringen können für ein Abendmahl, aber ...“
da sah er eine arme kleine Maus, die zitternd vor Angst in einem Astloch hockte. Davor lauerte ein wildes Tier.

„Ach hilf mir doch!“ rief das Mäuslein mit dünner Stimme,
„das wilde Tier will mich fressen!“
Da vertrieb der Junge das wilde Tier und befreite die Maus.
Er dachte noch bei sich: „für den hohlen Zahn
wäre die Maus auch für mich gut gewesen...“,
doch die Maus sprang vergnügt davon und dankte ihm.
Da sah er es zwischen den Steinen des Mühlbaches gülden blinken.
Ein goldenes Schlüsselchen lag dort verborgen.

Er hob es auf und betrachtete es von allen Seiten genau.
Dann dachte er sich: „wo ein Schlüssel ist, dort muß es auch ein Schloß geben!“

Er suchte und suchte, und schließlich entdeckte er
in der Mauer der alten Mühle einen lockeren Stein,
und als er ihn herauszog, so war dahinter ein hölzernes Türchen.

Zuerst sah er kein Schloß, aber er dachte sich wieder:
„wo ein Schlüssel ist, da muß auch ein Schloß sein!“
Und als er das Türchen genauer betrachtete, da sah er,
daß sein goldenes Schlüsselchen genau in dieses Loch paßte!

Er drehte den Schlüssel um, es knarrte und - doch halt!

Wir müssen nun Geduld haben,
bis sich das Türchen in der alten Mühle ganz geöffnet hat
und wir sehen können, was wohl darinnen ist!

Hier beginnt das Märchen

Es lebte einst vor langer Zeit an einem einsamen Ort mitten im Wald ein Müller in seiner Mühle. Das Dorf am Hügel sah man von seiner Mühle nicht. Doch die Vöglein zwitscherten fröhlich und die Rehe auf der Lichtung ästen friedlich.
Ein Bächlein plätscherte über die Wiese, wo der Mühlbach abzweigte. Und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Bei Tag kamen Bauern aus dem Dorf und brachten ihm ihr Getreide zum Mahlen, vergaßen auch niemals das Nachwiegen, und starrten den Müller mit scheelem Blick an.

Die Müllersfrau versorgte den Haushalt mehr schlecht als recht, doch nicht weil sie faul und träge war. Für mehr reichte es eben nicht. Die Bauern aber, die dachten immer, der Müller würde aus ihrem Säckel reich und reicher. So ging das Leben seinen Gang, und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Müller und Müllerin waren zufrieden, freuten sich am grünen Gras, an Reh und Igel und an ihrem Hollerbusch, gleich neben der Mühle. Dort saßen sie oft, wenn das Tagwerk getan war.
Den Müller plagte das Reißen, denn die Abende wurden früh schon kühl und feucht, und des Morgens dauerte es lang, bis die wärmenden Sonnenstrahlen in den Wiesengrund hineinschienen.
Die Müllerin wiederum hätte so gern ein kleines Mädchen gehabt, doch der Wunsch blieb ihr verwehrt.

Beide waren rechtschaffene Leute, mit dem Wenigen das ihre Mühle erbrachte, zufrieden. Eines Nachts im November aber, es schien gerade der volle Mond, da dauerte den Müller seine Frau gar sehr. Und er rief in die Mondnacht hinaus: „oh wenn uns doch ein Hausgeist helfen würde!“
Die Nacht blieb still, nur das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte. Am nächsten Morgen sprach die Müllerin: „mir war so seltsam in der Nacht, da war ein Raunen und Flüstern im Gebälk!“ Doch weil ihr nichts fehlte und sie wie zuvor zufrieden war, dachte sich der Müller nichts dabei.
Und als es Sommer war, und die Sonne selbst die Mühle in ihrem kühlen Wiesengrund erwärmte, als die Sonntagsglocken aus dem Dorf herüberklangen, da brachte die Müllerin ein kleines Mädchen zur Welt.

Bevor aber noch das Mädchen getauft werden konnte, lag die Müllerin im Sterben. Nur einen Tag und eine Nacht konnte sie ihre Tochter im Arm halten. Am Morgen war sie tot. Da klopfte es an der Tür der Mühle, und als der Müller auftat, stand ein Hutzelweib davor. Ganz grau und faltig sah es aus, doch hatte es blitzende blaue Augen. „Ein Schatz wurde euch geschenkt, bewahrt ihn wohl,“ hub das Weiblein sogleich an zu sprechen, mit leiser Stimme. Der Müller aber schüttelte nur traurig den Kopf und schickte sie ihres Weges.

Übers Jahr nahm sich der Müller wieder eine Frau, denn der Haushalt brauchte eine tüchtige Hand, und das Töchterlein - Julchen hatte er es genannt nach dem Monat ihrer Geburt - wurde kräftig und brauchte Fürsorge und Erziehung. Er aber mußte die Mühle in Betrieb halten. Denn das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Die neue Müllerin war selbst eine Witwe und froh, mit ihren beiden Töchtern wieder in einer Familie zu leben. Sorgsam ging sie mit Julchen um, und es war ihr fast so lieb wie ihre eigenen Mädchen.

Da klopfte es abermals an der Tür, und wieder - auf den Tag genau wie im Jahr zuvor - stand das Hutzelweiblein davor. „Ein Schatz wurde euch geschenkt, bewahrt ihn wohl,“ sprach es wieder. Der Müller dachte sich, nun müsse er doch erfahren, was es mit der Alten auf sich habe, und bat sie herein in die Stube. Die beiden älteren Mädchen spielten in der Ecke mit Julchen, und die Müllerin knetete einen dicken Brotteig.
„Du kannst ein wenig Glück und Gesundheit brauchen, deshalb will ich dir soviel davon geben, wie du notwendig hast,“ nun flüsterte die Alte, kaum daß ein Laut ihre Lippen verließ. „Steck vom Liebsten was du hast, zu jedem Vollmond gerade das in ein Kästchen aus Ebenholz, was dir als erstes an dem, was dir am Liebsten ist, auffällt. Das Kästchen aber vermauere gut in das Fundament deiner Mühle, und verwahre den Schlüssel gut.“
Und damit steckte die Alte dem Müller ein Kästchen aus jenem eibenen Holz und ein winziges goldenes Schlüsselchen zu. Das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte, und die Alte war - hast du nicht gesehen! - fort. Die beiden älteren Töchter aber hatten die Ohren gespitzt und waren neugierig.

„Fort mit euch, das ist eine Sache die nur mich etwas angeht!“ sprach der Müller und verbarg Kästchen und Schlüsselchen gut.
In der Nacht, als alles schlief, da schlich sich der Müller hinaus und mauerte das Kästchen ins Fundament der alten Mühle. Einen Wackerstein steckte er vor das Loch, und als er sich sein Werk besah, dachte er, es sei kaum mehr zu entdecken. „Ach,“ dachte er bei sich, „der Hollerbusch wird sicher bald alles verdeckt haben.“

Und als der Mond voll wurde, da nahm er eine große Schere und schnitt seinem Julchen eine goldglänzende Locke aus dem Haar, schlich sich zum Hollerbusch und legte die Locke ganz heimlich in das Kästchen. So ging es Mond um Mond, Jahr um Jahr. Aus Julchen war ein hübsches Kind geworden, und in dem geheimen Kästchen lagen versammelt: ein Strümpflein, ein Milchzahn, ein getrockneter Blumenstrauß, eine Feder und ein Moospolster, und noch viele kleine Dinge, deren Wert nur der Müller kannte.

Der Hollerbusch war groß geworden und verdeckte die Mauer der Mühle, und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.

Julchen saß auf der Bank unter dem Hollerbusch und schrieb in ihr Schulheft, denn sie sollte einen Aufsatz erdenken.
Die älteren Schwestern aber strichen ums Haus, guckten in jenen Winkel und spähten über diesen Sims. Was sie suchten, das wollten sie dem Julchen nicht verraten. Doch wie es gar so arg bat, da entfuhr es der Zweitältesten: „wir suchen das eibene Kästchen, das der Vater einst in die Mühle vermauerte.“ - „Ja!“ fiel da die Älteste ein, „denn es soll einen großen Schatz enthalten! Das haben wir selbst gehört.“
Die Zweite sprach: „wir dürfen aber nicht danach suchen, der Vater hats verboten!“ Aber Julchen war sehr neugierig und half beim Suchen. Und weil sie ja ein gülden Sonntagskind war, so hatte sie eine besondere Gabe, was das Schatzheben anging. Bald entdeckte sie den grauen Wackerstein, der nur lose und ohne Mörtel in seinem Loch hockte, zog ihn heraus und blickte mit staunenden Augen auf das Kästchen aus Ebenholz.

Im gleichen Augenblick erfaßte die Mühle den Müller, zog ihn Zahn um Zahn tiefer in ihr geheimnisvolles Innere, und nur ein Fleck so rot wie Blut blieb im weißen Mehl von ihm übrig.
Und das Mühlrad rauschte nicht mehr, die Mühle rumpelte nicht mehr. Da war große Trauer in der Mühle, und es ging auch nicht mehr auf mit Glück und Gesundheit. Niemand brachte der Müllerswitwe Getreide zum Mahlen, nur die Pfarrersfrau steckte den Mädchen hin und wieder heimlich etwas zu. Die Dorfbauern aber schauten mit scheelem Blick auf die schwarze Müllerin und ihre Töchter. Nur Julchen mochten sie leiden.

Und Julchen war so hübsch geworden, daß manche ein Bursche aus dem Dorf wohl gerne Müller geworden wäre auf der Mühle, mit dem blonden Julchen an seiner Seite. Doch ach, da waren erst die beiden Älteren. Die mußten geheiratet werden, erst dann konnte Julchen in die Brautschuhe schlüpfen.
Mond für Mond ging ins Land, und niemand mehr legte etwas vom Liebsten in das eibene Kästchen hinein. Die Schwestern, hager und armselig, wollte niemand zur Frau.

„Das goldene Schlüsselchen brauchen wir!“ raunten sich die beiden zu. Das Schlüsselchen aber blieb verborgen, und so sehr sie auch danach suchten, sie fanden es nicht.

Die Zeit verging, die Müllerin verzagte, und eines Nachts im November, der Mond schien voll, da starb sie. Die älteste Tochter folgte ihr bald darauf, und im selben Winter erschlugen Räuber die Zweite. Julchen, das sich im geheimnisvollen Gebälk der stillen Mühle versteckt hatte, entdeckten sie nicht.

Als aber noch mehr Zeit vergangen war, da begab es sich, daß unser Köhlersjunge sich auf den Weg aus dem tiefen Wald hinunter ins Dorf machte. Und ihr wißt es ja schon: er entdeckte das goldene Schlüsselchen im Mühlbach unter einem grauen Stein, und das Julchen schaute gerade aus der Mühle heraus. Da fiel es ihm ein, daß hinter dem Hollerbusch ein lockerer Wackerstein im Mauerwerk steckte, dahinter sich das eibene Kästchen verbarg.

Der Köhlersjunge nahm sein Schlüsselchen, und Julchen zog den Stein heraus. Gespannt waren beide nun, ob das Schlüsselchen wohl paßte, und was soll ich euch sagen: er tat es!

Der Junge drehte den Schlüssel um, es knarrte und - das Mühlrad rauschte wieder, und die Mühle rumpelte wie einst. Unter dem Hollerbusch aber sah Julchen etwas gülden blinken, just in dem Augenblick, als ein Mäuslein darunter hervorhuschte.
Flugs hob sie es auf, und es war ein Golddukaten! Den brachten die beiden zum Pfarrer, bestellten ihr Aufgebot, und bald wurde vergnügt die Hochzeit gefeiert.
Und bestimmt lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage, und immer wenn ein altes Hutzelweib an der Türe klopft, so bitten sie es herein, mit ihnen zu essen und zu trinken und seine müden Beine auszuruhen. Das Mühlrad rauschte fortwährend, und die Mühle rumpelte ohne Unterlaß. Und wenn ihr einmal dort vorbeikommt, im kühlen Wiesengrund, dann haltet Ausschau, ob ihr nicht auch so ein goldenes Schlüsselchen und ein ebenhölzernes Kästchen entdecken könnt!

Marieta Hiller, 28. November 2012


Da! Ich höre es schon wieder, das Bitten und Betteln: „Kieselbart! Erzähl uns doch noch einmal das wunderschöne Apfelmärchen von gestern! Wir wollen es noch einmal hören, und der brummdicke Boskopp ist extra herübergekommen, weil er es auch gern hören möchte!“ So geht das nun schon seit einer Woche, und alle waren sie seither da und haben sich das Märchen angehört: die liebreizende Gewürzluike, der vornehme Kaiser-Wilhelm-Apfel, der glanzbäckige Maunzenapfel und Krummstiel aus dem Rheinland, der sanfte Jakob-Fischer-Apfel und der genügsame Beerbacher Taffetapfel.

Ein Märchen von Marieta Hiller, zur Zeit der Kartoffelfeuer im September 2012

Einst vor vielen Jahren, als das Leben auf dem Land und im Wald noch beschwerlich war, da begab es sich, daß Jakob, ein armer Köhlerjunge, einmal aus dem tiefen Wald hinunter ins Dorf mußte, um für seine Mutter Mehl zu mahlen.
Es war gerade zu Anfang der Herbstzeit, und die Mutter hatte die Getreidekörner im Morgengrauen vom Feld gelesen, als der dicke Bauer noch bei seinen Kühen war. Frühstück hatte es keins gegeben, denn es war nichts mehr in den Schubladen und Schüsseln, was man noch hätte essen können, und so knurrte Jakobs Magen sehr.
Auf seinem Weg zur Mühle vor dem Dorf kam Jakob an einem Kartoffelacker vorbei, und weil er weit und breit niemanden entdecken konnte, der es ihm hätte verwehren können, da bückte er sich und hob ein paar Kartoffeln auf, die er schnell in seiner Tasche verschwinden ließ.
Kartoffel und Salz aber ohne Schmalz - das war ja der Wahlspruch der armen Köhlersleute, wie ein jedes Kind weiß. Und was Jakob in seiner Tasche hatte, das würde heute abend an einem lustigen Feuerchen Vater Mutter und auch das Finchen satt machen.

Schnell bückte sich Jakob noch einmal, und beim siebten Mal schlossen sich seine klammen Finger um eine besonders dicke Kartoffel, die schwer und verheißungsvoll in seiner Hand lag. Voller Vorfreude schaute Jakob die Kartoffel an, und siehe da: sie hatte eine Knubbelnase, einen fröhlichen kleinen Mund und zwei Äuglein!
Doch während sich Jakob noch wunderte, kam es noch besser: die Äuglein blinzelten, die Nase schnupperte, und der Mund öffnete sich zu einem Lachen!
„Ach wie bin ich froh, daß du mich aufgehoben hast!“ sprach die Kartoffel. „Bewahre mich gut, und hüte mich wie deinen Augapfel, so will ich dir drei Wünsche erfüllen!“
„Oho!“ dachte sich Jakob, eine Wunschkartoffel! Das war ja wie im Märchen...

Behutsam steckte er die Kartoffel in die Tasche und wanderte weiter zur Mühle, wo er sein Säcklein Getreide mahlen lassen wollte, damit die Mutter morgen wieder Mehlfladen backen konnte.
Der Müller war ein Schelm und Schlitzohr, und immer behielt er das Beste für sich selbst zurück. So schien es Jakob auch heute, als bekäme er aus seinem Säcklein Körner nur ein Bruchteil an Mehl. „Ich wünschte du würdest mich nicht um mein bißchen Mehl betrügen!“ sagte Jakob zum Müller. Doch anders als sonst, verging dem Müller sogleich sein hämisches Gelächter, denn aus der Tasche des Köhlerjungen sprangen flugs drei Mäuse, huschten hinein in die Mühle und kamen sogleich wieder heraus, ein jedes ein Säcklein feinstes Mehl auf dem Rücken. Dem Müller wollten schier die Augen aus dem Kopf fallen, doch Jakob wurde traurig und dachte: „das war mein erster Wunsch. Nun bleiben mir nur noch zwei!“
Zum Glück dachte er nicht auch noch „Wenn ich doch nur besser aufpassen könnte, daß ich meine beiden Wünsche nicht im Unverstand verschwende!“ Nein, das dachte er zum Glück nicht, denn dann wäre ja nur noch ein Wunsch übrig geblieben...
Vielmehr nahm er behutsam den Mäuslein die Säcklein vom Rücken und steckte sie in seine Tasche. Dabei berührten seine Finger die Kartoffel, und sie fühlte sich warm an.
Schnell machte sich Jakob auf den Heimweg, bevor dem Müller sein erstauntes Mundwerk zuklappen konnte.

„Hm,“ dachte sich Jakob auf dem Weg hinauf in den Wald, „hm, das gibt es also wirklich, daß man sich etwas wünschen darf!“ Und während er es noch immer nicht ganz fassen konnte, begann er fieberhaft zu überlegen, wie er seine beiden Wünsche am besten einsetzen könnte.

Am Wegesrand sah er einen Vogel sitzen, der schien krank zu sein. Ganz traurig und still hockte er dort, und doch sah Jakob vom Feld her eine Katze heranschleichen.
„Vogel flieg!“ rief er deshalb, doch der Vogel duckte sich nur noch tiefer ins Gras. Schon war die Katze fast herbei, da beugte sich Jakob hinab zum Vogel und rief flehentlich: „lieber Vogel breite deine Flügel aus und flieh!“ und so geschah es: der Vogel flatterte und erhob sich in die Luft.

Da kam ein Wind auf und kämmte das Gras, raschelte in den Blättern der Haselsträucher und bauschte der Katze das Fell herum. Und plötzlich begann der Wind sich zu einer Spirale zusammenzudrehen, die schnell und immer schneller im Kreise herumfuhr. Erst ein Seufzen, dann ein Lachen wurde hörbar, und als der Wind sich von einem Augenblick zum nächsten legte, da stand gerade dort, wo der kranke Vogel gehockt hatte, eine wunderschöne junge Frau. Schwarz war ihr Haar wie das Federkleid der Amsel, und ein goldgelbes Band wand sich um ihren Kopf. Aus ihrem lieben Gesicht aber blitzten zwei lustige glänzende Augen, und schon sprang sie auf Jakob zu. „Du hast mich von einem bösen Zauber erlöst, der mich für eine lange lange Zeit in Vogelgestalt gezwungen hat! Ich danke dir, oh ich danke dir von Herzen! Denn ich bin die Prinzessin Merula aus dem Zauberwald, und die böse Hexe wollte ihre eigene Tochter an meiner Statt auf den Thron bringen! So hat sie mich eines Tages gefangen und in das arme Vögelchen verzaubert, das ich eben noch war.“

Jakob beschloß, die Prinzessin Merula zu ihrem Schloß im Zauberwald zu begleiten, damit ihr nichts mehr zustoßen konnte, denn sie gefiel ihm doch sehr in ihrer liebreizenden Art. Und kaum waren sie am Tor angekommen, da erhob sich im Schloß große Freude. „Unsere zweite Tochter ist zurückgekehrt!“ riefen König und Königin voller Glück aus. Auch Jakob hießen sie freundlich willkommen und baten ihn an ihre Tafel. Ach, wie gut ließ Jakob es sich dort ergehen! All die feinen Köstlichkeiten, und man sah vor lauter Essen kaum die Teller drunter! Und wie gern hatte er seine Merula, und wie lieb schaute sie ihn aus ihren lustigen Augen an!
Doch des Königs Miene wurde traurig und immer trauriger, als er das sah. „König, was lachst du nicht mit uns? Unsere Tochter ist wieder da!“ fragte die Königin. Der König schüttelte sein Haupt, seufzte tief und sprach: „Weißt du denn nicht mehr, was die alte Hexe Hagzissa gesagt hat? Zuerst muß unsere Ziehtochter vermählt werden, vorher darf Merula nicht heiraten!“
Jakob schaute sich um, und tatsächlich, da entdeckte er noch eine junge Frau an der Tafel, gerade auf der anderen Seite des Königspaares. Heimtückisch und böse blitzten ihre Augen, eins rechts und eins links von ihrer langen spitzen Nase. Die Mundwinkel waren so weit herabgezogen, daß sie schon beinah vom Kinn herunterpurzelten.

„Wer ist das?“ flüsterte er zu Merula. „Das ist Wikala, die Tochter der bösen Hexe. Meine Eltern glauben, sie sei meine ältere Schwester. Das hat die Hexe getan. Und nun soll der Erste, der auf Freiersfüßen durch das Schloßtor schreitet, Wikala zur Frau bekommen. Erst dann werde auch ich einen Gemahl finden. Ach!“ und Merula fing an zu weinen.

„Nun weine nicht, Merula. So freie ich auch noch deine Schwester, und ich tue es für dich, damit es dir wohl ergehen mag.“ murmelte Jakob, dem dabei aber nicht recht wohl war.
Schweren Herzens wandte er sich zum König und sprach: „ich will euch gerne helfen, denn ich habe etwas, das mich dabei stärken wird.“ Jakob dachte an seine beiden Wünsche, doch er wußte auch, daß er sie sehr geschickt einsetzen mußte. Nur, wie - das wußte er noch nicht.

Der König fügte sich drein, und die Hochzeit wurde für den nächsten Tag schon vorbereitet.

Bereits am frühen Vormittag rauschte eine prachtvolle Kutsche in den Schloßhof, ganz schwarz und gezogen von sechs kohlpechschwarzen Rappen. Eine würdevolle Dame entstieg der Kutsche, und kaum hatte sie den Saal betreten, da beherrschte sie schon alles: Bedienstete, Hofleute und das Königspaar.
„Ein Köhlerssohn soll eure Tochter zur Frau bekommen?“ keifte sie. „Pfui Spinne!“ Und schon krochen aus ihrem schwarzseidenen Gewand genau diese: haarige dicke Spinnen in langer Prozession. Wimmelnd ergossen sie sich über den Boden, bald hatten sie Jakob umringt. Noch immer krochen Spinnen aus dem schwarzen Gewand, und noch immer keifte die edle Dame, die nun schon gar nicht mehr so edel aussah. Je mehr Spinnen aus ihrem Kleid, aus ihren Haaren, ja sogar aus ihren Schuhen kamen, desto kleiner schien sie zu werden. Zuletzt stand ein häßliches altes Hutzelweib im Saal, mit einer langen spitzen Nase, auf der eine Warze saß.

Die Spinnen aber begannen an Jakobs Beinen emporzukrabbeln, und endlich wurde es Jakob zu viel. „Verschwindet! Ihr sollt von mir weggehn!“ rief er - und ach! Schon erhob sich wieder der Wind, der sich zu einer wilden Spirale zusammenballte, dabei wild heulte und die Blumen von der Hochzeitstafel blies. Wo der Wirbelwind den Boden berührte, wurden die Spinnen aufgesaugt, bis nicht eine einzige mehr im Saal herumkroch.

„Nun,“ dachte sich Jakob, „so habe ich meinen zweiten Wunsch vertan, doch scheints nicht zum Schlechten geraten zu sein!“ Denn die Alte war noch ein gutes Stück eingeschrumpft, und ihre Tochter - sie mußte es sein, da war Jakob sich sicher, war so dünn und durchscheinend geworden, daß man es hätte sehen müssen, wenn ein Brocken Bratenfleisch durch ihren Hals hinabgewandert wäre.

„Nun gut, dann soll es so sein!“ faßte Jakob seinen ganzen Mut zusammen, denn er war im Begriff seinen letzten Wunsch einzusetzen.
„Ich wünsche, daß alle die nicht reinen Herzens sind, auf immer in die Hölle fahren mögen!“ Ein gewaltiger Wirbelwind erhob sich, es fauchte und heulte daß es nur so eine Art hatte. Durch alle Winkel des prächtigen Saales fuhr der Wind, über Tische und Bänke, an den Wänden hinauf und in die gestickten Wandbehänge, in Töpfe und Schüssel und in den Kamin.
Dann war der Spuk vorbei: alles lag wieder still und friedlich, sogar eine Schüssel mit Kartoffeln war heil geblieben. Doch die stand nun nicht mehr auf einer festlichen Königstafel, sondern auf einem ganz gewöhnlichen Holztisch, blank gescheuert von tagtäglicher Arbeit. König und Königin saßen daran, aber nicht mehr mit Gold behängt und in prächtigen Kleidern. Pausbäckig und mit aufgewickelten Ärmeln beugten sie sich über die Schüssel, die schwieligen Hände ersetzten ihnen das Silberbesteck. Auch Merula war da, und noch immer war sie liebreizend anzusehen, und ihre lustigen Augen blitzten.

Und gerade, als die Knechte und Mägde zur schiefen niedrigen Tür herein in die Bauernkate traten, seufzte die Frau tief, und der Mann sagte „schweig still! Du und deine Wünsche! Du hast gesehen, wohin sie uns gebracht haben.“
„Du hast ja recht. Königin zu sein mag eine feine Sache sein - doch ist der Preis zu hoch. Was bin ich froh, daß unsere liebe Tochter Merula wieder bei uns ist, daß Wikala und Hagzissa fort sind und daß unser guter Jakob das alles bewerkstelligt hat!“ rief die Frau und schloß Jakob in die Arme und drückte ihn, daß ihm Hören und Sehen verging.

Und so hatte Jakob zwar keine Prinzessin zur Frau gewonnen, aber das muß für einen armen Köhlerssohn ja auch nicht unbedingt sein. Er und seine Merula waren glücklich und zufrieden, und wenn sie im Herbst auf ihrem Acker vor der Bauernkate die Kartoffeln ausmachten, so fanden sie in jedem Jahr wieder eine dicke Kartoffel mit Knubbelnase, lustigem Mund und lachenden Äuglein, und wenn sie nicht gestorben sind, dann haben sie auch in diesem Herbst wieder eine gefunden...

Marieta Hiller, zur Zeit der Kartoffelfeuer im September 2012

Stellt euch ein Land vor, in dem Elfen, Zwerge und andere vom Kleinen Volk mitten unter den Menschen leben - wie müßte dieses Land wohl aussehen?

Kalt und eisig wäre es wohl, denn man rückt hier gern zusammen. Eine uralte Lavalandschaft mit sanften Hügeln, verborgenen Höhlen, verträumten Seen müßte es sein, mit viel Licht aber auch einer guten Portion Dunkelheit. Hier könnten wohl Menschen und Elfen einträchtig nebeneinander existieren...

Und tatsächlich: sah ich dort nicht eben etwas huschen? Lustige kleine Elfenkinder auf dem Weg von der Elfenschule, wie sie nach ihren Licht- und Energieübungen flugs in einem schattigen Lavahügel verschwanden? Geradewegs mitten durch einen Garten hindurch, wo eine Menschenfamilie lebt! Direkt vorbei am alten Leuchtturm und zwischen der Hellisgata, der Skulaskejo und der Reykjavikurvegur verschwunden!

Richtig, liebe Märchenfreunde: in der legendären Elfenstadt Hafnarfjördur auf Island, dort gibt es das. Hier sind die Menschen stolz auf ihre Elfen, auf Feen, auf Zwerge und Gnome. In dieser kleinen Stadt bauten die Menschen sorgsam ihre Häuser rings um die alten Lavahügel, in denen schon seit Urzeiten die Wesen des Kleinen Volkes leben. Hier gibt es sogar einen Stadtplan, in dem die Behausungen dieser Wesen eingetragen sind: die einzige Elfenkarte der ganzen Welt. Gezeichnet hat sie Erla Stefansdottir, die wohl alle Angehörigen des Kleinen Volkes, hier auch Huldufolk genannt, persönlich kennt. Denn wie anders sollte sie deren Behausungen wohl in eine Karte einzeichnen können, wenn sie nicht schon überall zum Kaffee eingeladen worden wäre. Über zwanzig Zwergenwesen, vier Sorten Gnome und unzählige Elfenarten kennt Erla, und nur weil sie - wie die allermeisten Isländer übrigens - an diese Wesen glaubt, darf sie sie besuchen und verzeichnen. Der verborgene Geist der Natur persönlich zeigt sich in ihnen, und hier in Hafnarfjördur können Menschen eins werden mit ihm. Wer von uns, der einmal eine Elfe oder Fee besucht hat, würde jemals wieder etwas zum Schaden der Natur tun? In einer winzigen Blüte, einem wundersam geformten Lavastein, in einem weiten Blick über farbenfrohe Sonnenuntergänge über dem Meer kann der Eingang in die Zauberwelt liegen, in der die Wahrheit des Lebens sich zwischen den geschäftigen Menschen und dem geheimen Huldufolk vereint.

Elfenkinder übrigens tun nichts lieber, als mit Menschenkindern zu spielen! Wir müssen unseren Kindern nur einmal zuhören, dann werden wir es schon erfahren...

Und das Dreieck zwischen den Straßen mit den schwierigen Namen, in dem vorhin die Elfenkinder verschwunden sind, ist der eigentliche  Schatz von Hafnarfjördur: der Hellisgerdi Park. Hier leben unzählige Verborgene Leute, Baumzwerge, Gnome, Blumenfeen, Lichtfeen und Freundliche Zwerge.

Und auch wer noch nicht zum Kaffee eingeladen war, erkennt vielleicht ihre Häuser am Lichtkranz, der darüber schwebt. Vor allem rings um die menschlichen Kirchen - Orte der Spiritualität und des Glaubens - zeigt sich oft ein solcher Lichtkranz. Zarte Elfen und lebhafte Zwerge gemeinsam weben im  Süden der Stadt ihre Kräfte aus Licht und Energie, um das große Aluminiumwerk der Menschen zu umgeben. Zuweilen steigt ein übermächtiger Lichtkranz in den hohen Himmel empor, von ungläubigen Menschen Nordlicht genannt, wir aber liebe Märchenfreunde, wir wissen es besser: es ist die schützende Energie des Huldufolks.

Die Wesen des Kleinen Volkes auf Island:

es gibt natürlich vor allem Elfen - dort auch Alfar genannt. Sie sind recht unterschiedlich in Größe und Statur: manche dick und groß, andere schlank und winzig. Die Lichtfeen, isländisch ljosalfar, wirken sehr zart und durchscheinend und halten sich vorwiegend an Seen oder in unberührten Gegenden auf. Sie sehen sowohl Engeln als auch Blumenfeen recht ähnlich. Auch mit den ljuflingar, den lovelings der Hügelländer, den Hochelfen der nordischen Sagenwelt, kann man sie schnell verwechseln. Engel (isl. englar)wiederum sind in vielen Arten vertreten, immer aber sehr leuchtend. Ihr oberstes Wesen ist der Berggeist, auch tivar genannt, was wohl aus unser aller gemeinsamen Sprachwurzel deva (sanskrit; auf latein deus, französisch dieu) entstammt.

Dann gibt es noch die erdverbundeneren Wesen: die Verborgenen Leute, die eigentlich als Huldufolk bekannt sind. Man kann sie leicht mit Menschen verwechseln, und immer treten sie buntgekleidet in größeren Gruppen auf. Die Gnome, nach Paracelsus eines der Elementarwesen der Erd- oder Berggeister, auf isländisch jarodvergar, werden nur eine Handspanne groß, sind lustig und leben in richtigen Familien wie die Menschen. Dvergar dagegen, die Zwerge, werden etwas größer - so groß wie unsere Kinder etwa, die noch an Märchen glauben - sie sind auf Island als farbenfroh und temperamentvoll bekannt, mal fröhlich und freundlich, mal aber auch garstig und häßlich.

Insgesamt muß gesagt werden, daß die Artenvielfalt dieser Verborgenen Wesen des Kleinen Volkes nur an einem Ort entstehen konnte und auch erhalten werden kann, an dem es für Menschen zwischen Licht und Dunkel, zwischen Nordlicht und Hügelschatten, nicht viel anderes gibt als die Natur. Und so hat die Natur im Glauben der Menschen hier auf der eisigen Insel einen besonderen Stellenwert. Und wer weiß: gehen wir auf der ganzen Welt erst einmal wieder sorgsam mit unserer Erde um, vielleicht kommen sie allerorten wieder hervor: die Kleinen Leute, und ihre Kinder werden mit unseren Menschenkindern im Sonnenlicht spielen...

Pfade der Energie: Drachenlinien, songlines, Nazca

Viele Menschen glauben an sie: die Ley Linien, sogenannte Kraftlinien, die Orte von besonderer spiritueller Bedeutung miteinander verbinden. Es gibt sie auf der ganzen Welt. In China werden sie Drachenlinien genannt, denn dort gilt der Drachen als Glücksbringer, als Hüter der Erde und des Himmels. Die australischen Aborigines kennen sie als uralte Songlines, und auf der Hochebene von Nazca in Peru sollen unbekannte Menschen lange vor unserer Zeit geheimnisvolle Lichtwege durch Scharrlinien markiert haben. Und - wer hätte das gedacht: gerade um Hafnarfjördur, am Helgafell (Fell ist isländisch für Berg) kreuzen sich einige wichtige Kraftlinien.

Doch ach, nicht jeder spürt sie - ja vielleicht ergeht es manch einem mit den Kraftlinen ähnlich wie in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern...
Man kann dran glauben, aber man muß es nicht.

Marieta Hiller, 2015 - oft hat Kobold Kieselbart dieses Märchen erzählt bei seinen Felsenmeerführungen...

An einem hellen klaren Bächlein in einem idyllischen Wiesental stand einst eine uralte Mühle. Noch heute steht sie dort, geht nur einmal hin und lauscht ihren Geschichten!

Und was die Mühle nicht alles schon erlebt hat...

Müller, so sagt man ja, stehen mit den bösen Mächten im Bund. Des Nachts, wenn der Mond sich verbirgt, kommen sie auf den Hof, die finsteren Gestalten. Und der Müller, ob er nun will oder nicht, muß ihnen zu Diensten sein. Mahlen, mahlen, mahlen die ganze Nacht, und nur nicht fragen, was denn da wohl gemahlen wird. Dem Müller ist nicht wohl dabei, doch was bleibt ihm schon? Gehorcht er nicht, so schießt ihm die Hex ins Kreuz! Dafür hat der Böse schon gesorgt und dem Müller ein arges Weib zur Frau gegeben. Die Müllerin - des Nachts bei Vollmond springt sie als schwarze Katze aus dem Fenster und drückt als Alb arme unschuldige Menschen im Dorf!

Nein, die Mühle war für lange Zeit kein Ort, wo man gerne hinging. Doch mußte man ja - das Mühlenrecht besagte es! Auch der alte Lindenbauer und die Seinen mußten ihr Korn zu jener Mühle bringen, eine andere war ihnen nicht erlaubt. Wie fürchteten sich die Kinder davor, auf dem Fuhrwerk des Alten in den Mühlenhof einzufahren, wo die schweren Säcke ausgeladen wurden und vom Müller griesgrämig in den unheimlichen Schlund der Mühle geschüttet wurden. Wenn dann noch die Müllerin aus der Türe trat und mit zuckersüßer Stimme fragte, ob denn alles beim Besten sei, dann schüttelte es das Kathrinchen und ihre Geschwisterchen so recht. Es gruselte die Kinder so sehr, daß sie des Nachts von der Müllerin träumten!

Nun geschah es aber, als das Kathrinchen schon ein ansehnliches junges Mädchen geworden war, daß es am Abend unter der großen Weide ein Stelldichein mit seinem Liebsten hatte. Unbeteiligt ließ die große Weide ihre langen Zweige im Wasser treiben, sie hatte schon viele jener Stelldicheins erlebt. Zwischen ihren Wurzeln aber huschten seltsame Wesen umher, fröhliche kleine Kerle mit lustigen Äuglein, die lugten heimlich hervor und kicherten über die beiden Menschenkinder. Und in den Knospen der Weide, da erwachten eins nach dem anderen die Elfenkinder, die dort wohlversehen den Winter verschlafen hatten. Neugierig schauten sie auf die beiden Menschen, die doch für nichts ringsherum Augen hatten als nur für sich selbst.

„Morgen muß ich zur Mühle, Korn abliefern. Huh! Der Müller ist mir unheimlich, wie er immer so hohläugig stiert. Und sein Gesell, der finstere Kerl: die zentnerschweren Säcke wirft er sich auf den Rücken, als wärs ein Federbett! Die Müllerin erst noch: hinter ihrer zuckersüßen Art verbirgt sich wer weiß was...“ sprach das Kathrinchen zu ihrem Liebsten.

Und all die Verborgenen in den Knospen und hinter den Wurzeln der Weide, sie hörten es wohl. Weil nun aber das Kathrinchen gar so lieb und nett war, so wollten sie ihm helfen und das finstere Treiben in der Mühle für alle Zeit beenden.

Kaum trieb am folgenden Morgen das Kathrinchen den Esel mit dem Wagen voller Säcke hinunter zur Mühle, da hockten sich leise leise all jene kleinen fröhlichen Wesen mit drauf und fuhren geradewegs mit hinein in den Mühlenhof. Und als der Müller anhub, das Kathrinchen und alles was es umgab, mit seinem Griesgram wie mit einem grauen Leichentuch zu überziehen, da zupften die Kleinen am grauen Tuch, machten zierliche kleine Löcher hinein und zogen Faden für Faden heraus. Schon sah der Müller nicht mehr so griesgrämig aus, auch sein Rücken wurde gerader!

Trat aber der Geselle an den Wagen, um sich die Säcke auf die Schulter zu werfen wie Federbetten, da hockten die Kleinen obenauf und wurden schwer wie Blei! Schon mußte der Gesell sich sittsam unter seiner Last beugen und erkennen, daß es Stärkeres gab als ihn.

Der Müllerin aber, der geschah das Seltsamste: kaum trat sie aus der Stube unter die Tür, um Kathrinchen zuckersüß eine gute Mahlzeit zu wünschen - ihr müßt wissen, daß die Mahlzeit einst jene Weile meinte, während der man wartete, daß das Korn gemahlen sein würde. Diese Zeit verkürzte man sich mit einem mitgebrachten Essen, und so wurde endlich unser Wörtchen Mahlzeit daraus, mit dem wir uns einen guten Appetit wünschen!

Auch Kathrinchen hatte ihr Essen dabei: ein kräftiges Stück dunkles Brot und einen würzigen Käse. Nur Wein brachte sie nicht mit in die Mühle zur Mahlzeit: den durfte nur die Müllerin servieren. Und gerade, als diese mit hämischem Gesicht fragte, ob das Kathrinchen denn wohl einen Heller für einen Schoppen Roten habe - den das Mädchen natürlich nicht hatte, denn ein Heller war etwas, was man nicht leichtfertig für einen Schoppen Roten ausgab - da zwickte und zwackte es die Müllerin auf einmal hinten und vorne, und ihre Mundwinkel gingen nach oben. „Oh, Kathrinchen, heute ist mein Geburtstag, und ich will dir von Herzen gerne einen Schoppen Roten einschenken für ein Gott vergelts!“

Verwundert ließ Kathrinchen sich den Wein schmecken, und als das Korn gemahlen war, da luden Gesell und Müller die Säcke auf den Wagen, und ihr schien daß sie diesmal voll und prall waren wie nie zuvor. Denn immer, so meinten auch alle aus dem Dorf, immer zweigte der Müller etwas zu viel für sich selbst ab vom gelieferten Korn.

Freundlich rief ihr die Müllerin hinterher: „Kathrinchen, und wenn du und dein Liebster Hochzeit haltet, so kommt nur mit allen euren Gästen hierher in die Mühle, ich will euch ein Hochzeitsmahl bereiten, von dem man noch lange erzählen wird im Tal!“

Und was glaubt ihr wohl, wie es weiterging?

Kathrinchen und ihr Liebster hielten Hochzeit, sie feierten bis spät in die Nacht mit allen Verwandten und Freunden und ließen es sich gut gehen! Die Müllerin aber trug auf, was Küche und Keller nur hergaben, der Gesell schleppte Platten mit Gebratenem und Gesottenem, Schüsseln voller feinster Gemüse und Soßen, ganze Berge von Klößen und Brot! Der Wein funkelte in den Gläsern, und silberne Kerzenleuchter schmückten die Tafel. Freundlich grüßte der Müller von seiner Hofbank und schmauchte sein Pfeifchen, und alle waren guter Dinge.

Am Bach aber, wo die große alte Weide ihre Zweige im Wasser wiegte, dort webten geheimnisvolle kleine Wesen ihre Zauber, und fortan zog es all die vielen Liebenden, die sich noch bis heute unter der Weide zum Stelldichein treffen, stets hinunter zur alten Mühle um Hochzeit zu halten. Und wenn ihr es nicht glaubt, so kommt nur einmal im Mondenschein zur großen Weide und küßt euch so recht von Herzen - ihr werdet schon sehen...

Marieta Hiller Februar 2014

Das älteste Märchen der Welt - mit einigem Wahrheitsgehalt, so wie alle Märchen! - ist wohl die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies. Eva sollte nicht vom Baum der Erkenntnis naschen, doch was tat sie? Sie naschte nicht nur selbst, sondern ließ auch ihren Adam probieren. Und schwupps: schon war die Schlange da und sorgte für mächtig Durcheinander im Paradies. Den Apfel aber, den Eva vom Baum gepflückt hatte, den muß sie wohl heimlich mit rausgeschmuggelt haben. Nicht einmal die Erzengel mit ihren Flammenschwertern haben es bemerkt. Und dann ließ sie ihren Adam schuften und schwitzen. Der Garten Eden war futsch, der heimische Obst- und Gemüsegarten aber wollte jetzt gepflegt werden. Und wofür hat man denn einen Mann, wenn nicht zur Gartenarbeit - so dachte sich Eva.

Und sie nahm die witzigen fünf Bübchen aus ihren fünf Stübchen im Herzen des heimlich entwendeten Apfels und wies Adam an, sie zu hegen und zu pflegen, bis starke Apfelbäume aus ihnen geworden wären. So kam wohl der Apfel in die Welt. Ich weiß, andere erzählen diese Geschichte gaaanz anders...

Dann aber mußte die überaus wohlschmeckende Frucht noch einen Namen bekommen, und den wiederum bekamen sie nicht von Adam und Eva, sondern von Felshocker und Steinbeißer.

Diese beiden lebten nicht im Paradies - das war ja sowieso verloren. Nein, sie lebten im Odenwald, und das ist wahrhaftig besser als im Paradies. Der eine Riese lebte auf dem Felsberg, der andere auf dem Hohenstein. Und sie vertrieben sich die Zeit mit einem Spiel: ein jedes Ding auf der Erde bekam von ihnen seinen Namen. Sie verfuhren dabei immer abwechselnd und streng nach dem Alphabet. Als Steinbeißer an der Reihe war mit dem Buchstaben A (das ging immer im Kreis von A bis Z und dann wieder von vorne, denn die Welt hält mehr Dinge zum Benennen bereit als es Buchstaben im Alphabet gibt...), da entdeckte er einen neuen Baum auf der Welt. So einen hübschen Baum mit Früchten dran, mit roten und gelben Bäckchen und einem Duft wie ..... hmmmm! Und Steinbeißer nahm die Früchte mit zu Felshocker, dem er damit imponieren wollte. Beide Riesen legten die Früchte zuerst einmal aufs Vulkanfeuerchen, denn man kennt das ja: wenn man etwas ißt, was man nicht kennt... Vorher heiß machen kann auf keinen Fall schaden, das wußten auch die Riesen schon.

Dann schnappte sich Felshocker eine Frucht und biß davon ab. Aaaaahhh! rief er verzückt aus, denn eine so wohlschmeckende Frucht war ihm noch nie zwischen die Zähne gekommen. Aber, die Frucht war heiß, und die Schale platzte mit einem lauten „pffffff“. Felshocker, nicht faul, klatschte vor Freude in die Hände und brüllte (Riesen brüllen immerzu, schrecklich für unsere armen Koboldohren...) „AAAAPFFFFF - das wird der neue Name für diese leckere Frucht!“, und dabei tropfte ihm der Saft vom Kinn. Steinbeißer aber, der ja eigentlich an der Reihe war mit Namengeben, bestand auch darauf und meinte: „So geht das nicht, Felshocker. Ich bin dran! Und weil wir dort wo ich herkomme, im Land an der schönen blauen Donau, immer ein kleines L an alles dranhängen, was wir lieb haben, sage ich jetzt, daß diese Frucht ab heute AAPFFFFF...L heißen soll.“ Felshocker war so mit seinen leckeren Früchten beschäftigt, daß das diesmal ohne Streit vonstatten ging (was nicht immer so glimpflich ablief - ihr wißt, die beiden sind auch schuld daran, daß es heute das Felsenmeer gibt!). Steinbeißer durfte seinetwegen also gern den Namen der Frucht festlegen, und so kommt es, daß sie heute noch APFEL heißt. Aber wenn ich damals nicht die Ohren gespitzt hätte, und es euch heute nicht erzählt hätte, dann wüßtet ihr es noch immer nicht...

Noch ein Wort zu uns Kobolden: einst lebten wir gemütlich und froh in den alten Bauernhäusern. Dort auf dem Dachboden war es warm und kuschelig im Heu, und abends wenn die Menschen alle schliefen, dann huschten wir in die Küche hinunter. Dort hatte die Hausfrau stets einen Topf mit Milch oder Brei auf dem Herd stehen, und der Herd war immer warm. Eine gute Hausmutter vergaß auch nie, den Deckel vom Topf zu lassen, damit sich die Kobolde laben konnten. Denn wir waren die Hausgeister der Familie, und zum Dank sorgten wir für Gesundheit, Glück und Freundschaft in diesem H?aus. Wehe aber, wenn die Frau den Deckel auf den Topf legte! Dann polterte es nachts, und am nächsten Morgen war die ganze Küche durcheinander!

Doch ach, leider hörten die Menschen irgendwann auf an uns zu glauben. Und sie verließen ihre gemütlichen Bauernhäuser, um in übereinandergestapelten Schachteln zu wohnen. Einen warmen Herd hatten sie plötzlich auch nicht mehr, der war elektrisch und funktionierte mit Knöpfen, die wir nicht verstanden. Die Töpfe mit all den leckeren Sachen wurden in einem Schrank eingeschlossen, den wir nicht öffnen konnten. Und zu guter Letzt schafften sich die Menschen auch noch einen elektrischen Kobold an, der auf Knopfdruck einen Heidenlärm veranstaltete und Dinge verschwinden ließ!

Da beschlossen wir, uns wieder in den Wald zurückzuziehen und leben seither im Felsenmeer, wo es doch erstaunlich viele Menschen gibt, die noch an Kobolde glauben.

Andere Menschen behaupten heutzutage, das Gepolter auf dem Dachboden komme von Siebenschläfern! Gut, zugegeben, die Siebenschläfer lieben kleine dunkle Verstecke, zum Beispiel in hohlen Astlöchern von knorrigen alten Apfelbäumen. Oder eben auch auf stillen Dachböden. Auch werden die Siebenschläfer ja sogar von den Menschen als Kobolde bezeichnet. Wenn die wüßten....

Ich übrigens bin Kobold Kieselbart aus dem Barythenquarze und zu den Granodioriten. Es genügt aber wenn ihr Kieselbart zu mir sagt. Ich bin von allen Kobolden der Menschenbeauftragte, weil es mir vor gar nichts graust. Und so stehe ich immer zu Diensten, wenn es um eine Frage geht, die die Menschen über uns Kobolde haben. Ich kann Euch Sachen erzählen..., über Kontinente, die entstanden und wieder versanken, über Meere die einst den Odenwald überfluteten, über die wahre Geschichte wie das Felsenmeer entstanden ist, was die Eiszeit hier anrichtete und natürlich auch, wie sich die armen alten Römer mit ihren Steinen abquälen mußten. Ihr könnt mich jederzeit finden, wenn ihr die Felsenmeerdrachen sucht!

 

Marieta Hiller, erschienen in Typisch Odenwald, der Apfelwein-Sonderbeilage des Darmstädter Echo im September 2010