Vor langer langer Zeit, an einem Ort gerade so wie hier oder auch ganz wo anders, da lebte in einem Wald auf dem Hügel ein armer Korbflechter. Mühselig hatte er im Herbst, kaum daß die Blätter gefallen waren, tagein tagaus seine frischgeschnittenen Weidenruten vom Bach hinauf in seine Hütte geschleppt, wo er des Abends mit Frau und Kindern Körbe flocht. Alle mußten helfen: die Kinder mußten die Ruten schälen, die Frau holte in schweren Eimern das Wasser zum Einweichen herbei. Nur den Korbmacherhobel, sein kostbarstes Werkzeug, durfte nur der Vater benutzen. Die dicken Ruten mußten gespalten werden, und für ganz feine Körbe wurden Späne aus ihnen gezogen. Wenn es Frühling wurde, dann zog die ganze Familie, über und über beladen mit Körben, zum Markt hinunter in die große Stadt. Große Körbe, in denen die Dienstmägde der Reichen die Weißwäsche zum Bleichen auf den Anger trugen, kleine Körbe für Brot und Eier, feine Körbchen für die Sächelchen der Damen und grobe Körbe für dickbauchige Flaschen voller Most hatten sie sich umgebunden. Selbst die Ziege war breit ausladend mit Körben behängt. Alljährlich zum Matthaisemarkt traf sich unsere Korbflechterfamilie mit anderen armen Leuten, die von der Hand in den Mund lebten und hier ihre Sachen feilhielten: Besenbinder, Leineweber, Kesselschmiede, Kammmacher. Doch bevor es so weit war, mußte Konrad, der älteste Sohn, hinunter zum Bach, um frische Weidenruten zu schneiden. Die wollte der Vater nicht zum Körbeflechten, sondern zum Pflanzen. Denn Weidenruten, im frühen Frühjahr geschnitten, treiben in der Erde gleich wieder aus. Der Vater hoffte seit vielen Jahren, so gleich bei seinem Häuschen die begehrten Bäume anzusiedeln. Doch seit ebenso vielen Jahren war das vergeblich: die Ruten wurzelten zwar an, sie trieben auch aus, doch dann vertrockneten sie. Konrad seufzte, als er mit vollen Armen voller Weidenruten zurück den Berg hinauf wanderte.

„Ach“, wenn sie doch nur wachsen würden“.

Was er nicht bemerkte, das war ein feiner silbriger Staub, der bei seinen Worten aus einer der kleinen festen Knospen in seinem Arm herausstäubte. Er ging weiter und seufzte wieder:

„Ach, wenn doch der Weg nur nicht so weit wäre - wenn sie doch nur bei unserem Häuschen wachsen würden...“

und wieder stäubte es - unbemerkt - aus einer kleinen festen Knospe. Zum dritten Male, er war schon kurz vor der Anhöhe, seufzte Konrad aus tiefstem Herzen:

„Ach, wenn wir es doch nicht so schwer hätten! Wenn sie doch nur wachsen würden...“

und da - wieder stäubte es feinsilbern - da sah er es endlich auch. Der Staub drang aus einer festgeschlossenen Knospe, sie öffnete sich, ihre harten Blättchen rollten sich auf, und heraus lugte ein Weidenkätzchen mit weichem grauem Fell. Konrad strich versonnen darüber. Doch was war das? Das Weidenkätzchen bewegte sich, es reckte sich und streckte sich, und endlich war es ein winziges Wesen mit Ärmchen, Flügelchen und einem niedlichen silbernen Haarschopf. Neugierig schaute das Wesen sich um, bis es endlich Konrad entdeckte. Wie aber erstaunte der, als das Weidenkätzchenwesen zu sprechen begann! Mit feinem glockenhellem Stimmchen sprach es zu ihm:

"du hast dreimal schwer geseufzt, du hast dreimal einen Wunsch getan. Du sollst deinen Wunsch bekommen!“

Konrad wußte nicht wie ihm geschah. „Wer bist du, und wie kannst du mir meinen Herzenswunsch erfüllen?“

„Das ist leicht!“ lachte die kleine Gestalt silberhell. „Ich bin eine Elfe - wußtest du etwa nicht, daß Elfen in Weidenkätzchen überwintern, und daß du sie wecken darfst wenn du einen Herzenswunsch hast? Nun, hier bin ich!“

Konrad konnte es kaum fassen und setzte sich auf einen Stein. „Du bist eine Elfe! Und du willst mir wirklich helfen? Daß Vaters Rücken wieder gerade wird und Mutters Hände weich und sanft? Daß Klein-Rieke keine zerschnittenen Finger mehr hat und ich nicht mehr schleppen muß?“

„Nun, ehrliche Arbeit will ehrliche Mühe. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ sprach die Elfe. „Aber etwas erleichtern kann ich sie euch schon. Laß mich nur machen.“

Und die Elfe rief mit glockenheller Stimme:

“ihr Elfen alle, wacht auf! Es gibt Arbeit für uns.
Neugier           Kuschelwarm       Sanftmut    
Zappelchen      Zufriedenheit       Liebe     
Herzensgüte    Frische                Ehrgeiz     
Pudding          Zwetschgenkuß    Wirbelwind   
Leberwurst      Hibbelchen           Goldhelmchen     
Harmonie         Licht in der Nacht  Silberzahn   
Monsterschreck    Honigsüß

Aufwacheeeeen!“

„Was sind das für Namen? Wen rufst du denn da?“ fragte Konrad, doch da knisterte und kicherte und krispelkraspelte es auch schon in allen Knospen. Überall kamen verschlafene kleine Silberwesen hervor, rieben sich die Augen und schüttelten ihre silbrigen Haarschöpfe.

„Ach, das sind die 21 Elfen, die in den Knospen der Korbweide leben! Ihr Menschen könnt das ja nicht wissen, ihr denkt es sind 21 Schmetterlinge, deren Raupen von der Weide fressen. In Wirklichkeit sind wir aber waschechte Elfen. Und

Neugier           Kuschelwarm       Sanftmut    
Zappelchen      Zufriedenheit       Liebe     
Herzensgüte    Frische                Ehrgeiz     
Pudding          Zwetschgenkuß    Wirbelwind   
Leberwurst      Hibbelchen           Goldhelmchen     
Harmonie         Licht in der Nacht  Silberzahn   
Monsterschreck    Honigsüß

das sind unsere Namen. Ich selbst aber, ich heiße Glück. Und du kannst von Glück sagen, daß du mich als Erste aufgeweckt hast. Stell dir nur vor, du hättest Monsterschreck geweckt, oder Leberwurst!“

„Ja, lebt ihr denn immer in den Weidenknopsen? Und wie haben denn dann die Weidenkätzchen darin Platz, die später so schön groß werden?“ wunderte sich Konrad.

„Ach, das ist einfach!“ rief Glück. „Wir Elfen haben keine Wurzeln, und wir werden auch nicht geboren, wir müssen nicht essen und - sind wir erst einmal wach - so schlafen wir auch nicht mehr.“  

„Ja, aber wo kommt ihr denn dann her, wenn ihr nicht geboren werdet und auch nicht aus Wurzeln wachst?“ fragte Konrad.

„Ach, das ist einfach,“ sagte Glück wiederum. „Sobald bei Vollmond ein Tautropfen die Knospen der Weide benetzt, verwandelt sich das Weidekätzchen darin in eine Elfe. Doch keine Angst, es wird immer genug Kätzchen geben. Denn unserer sind niemals mehr als 21 an der Zahl:

Neugier           Kuschelwarm       Sanftmut    
Zappelchen      Zufriedenheit       Liebe     
Herzensgüte    Frische                Ehrgeiz     
Pudding          Zwetschgenkuß    Wirbelwind   
Leberwurst      Hibbelchen           Goldhelmchen     
Harmonie         Licht in der Nacht  Silberzahn   
Monsterschreck    Honigsüß    
  -  und Glück.

Und wir entstehen in jedem Frühjahr aufs Neue. Denn unsere Aufgabe ist es, für guten Wuchs zu sorgen. Oder glaubst du etwa, das ganze Auskeimen, Aufblühen, Wachsen und Werden passiert von ganz alleine? Nein, das ist unser Werk!
Kaum lugt aus den Blütenknopsen an den Bäumen das erste Rosa oder Weiß, kaum schiebt sich ein gelbes Blütenköpfchen aus dem tauenden Schnee, kaum beginnt es überall zu knispeln und knaspeln vor lauter Wachstum, da beginnt unser Arbeitsjahr.
Die Bienen müssen geweckt werden: sanft massieren wir ihre Beinchen und Flügel, damit sie nicht so zerknittert aussehen, wenn sie in den Frühlingssonnenschein starten. All die Käfer müssen poliert, die Regenwürmer angestupst, die Tiere aus dem Winterschlaf geholt werden. Im Frühjahr haben wir viel zu tun, und auch im Sommer. Da ist es vor allem der Korngeist, der uns viel Arbeit macht.“

„Der Korngeist?“ Kaum schaffte es Konrad, das Silbergezirpe der eifrigen Elfe Glück zu unterbrechen. „Wer ist denn der Korngeist?“

„Ach davon weißt du nichts, du baust ja kein Korn an. Die Bauern unten im Tal, die fürchten sich vor dem Korngeist. Sie glauben, daß er ihre Felder verwüstet, daß er Regenstürme ins reife Korn schickt und die Halme umlegt. Sie sagen dann, der Korngeist hat sichs im Feld gemütlich gemacht. Und sie flechten aus Palmzweigen Schutzkränze für ihre Felder.“

„Und was macht ihr gegen den Korngeist?“

„Ach, das ist einfach: wir passen auf das Korn auf, und wenn der Bauer bescheiden ist und seine Leute gut behandelt, dann kommt er schon nicht, der Korngeist.“ rief Glück.

„Aber ich hab dir noch nicht zu Ende erzählt, was wir das ganze Jahr so alles tun müssen. Wenn der Sommer geht, dann kommt die Zeit der Ernte, und dann zeigt sich, bei welchem Bauer eine Elfe ihr Zuhause gefunden hat, und bei wem nicht. Wer auf uns Elfen achtet und immer friedlich und freigebig mit seinen Sachen ist, der bekommt nämlich seine persönliche Elfe.“

„Aber ihr seid doch nur 21, und es gibt sooo viele Menschen!“

„Ach, das ist einfach! Weil wir ja nicht geboren werden, weil wir keine Wurzeln haben und weil wir nicht essen müssen! Wir können für alle da sein, die uns nötig haben.
Für jeden Menschen gibt es eine Elfe, und es ist immer genau die Elfe, die er braucht! Aber anstrengend ist das schon, puh!
Deshalb sind wir auch richtig müde, wenn die Ernte eingebracht, Haus und Hof winterfest gemacht, das Holz gehackt und die Vorräte gut verwahrt sind. Dann ist unser Werk getan, und wir dürfen ausruhen.“

Inzwischen waren Konrad und die Elfe Glück am Häuschen des Korbflechters angekommen, und siehe da: Konrad traute seinen Augen nicht! Ein dichter Zaun aus hochgewachsenen Korbweidenbüschen wuchs hinter dem Haus. Und gleich daneben sprang fröhlich ein kleines Bächlein aus einem Stein hervor, benetzte den Boden und nährte die Weiden. Übers Jahr war der Rücken des Korbflechters wieder gerade geworden, denn seine Körbe waren die schönsten, besten, geschmeidigsten und glattesten im ganzen Land, und die Käufer auf dem Matthaisemarkt rissen sie ihm geradezu aus den Händen. Die Hände der Mutter waren wieder sanft und glatt, denn alle jungen Mädchen aus dem Dorf waren begierig darauf, den Winter oben in der Korbflechterhütte zu verbringen, wo die Wunderquelle entsprang (vielleicht lag es auch ein bißchen an dem hübschen jungen Konrad?). Gern übernahmen sie das Wassertragen bei eisigen Winden. Klein-Rieke mußte auch keine Ruten mehr schälen, das taten die kleinen Brüder der Mädchen. Denn die konnten sich ja vor Neugier gar nicht lassen. Und jeden Abend gab es im Korbflechterhaus für alle, die gerade da waren oder des Wegs kamen, eine schöne dicke heiße Grützsuppe mit einem großen Stück Speck. Draußen aber, in den Knospen der Weidenkätzchen, da schlummerten Glück und ihre 20 Elfen dem Frühjahr entgegen, und bald schon, gar bald, werden die harten Blättchen sich aufrollen, und sie werden hervorlugen, die Weidenkätzchen mit ihrem weichem grauem Fell. Und wer weiß, vielleicht ist es ja gerade Deine Elfe, die da hervorlugt!

Marieta Hiller, zum Februarvollmond 2013

In einem fernen Land, vor langer langer Zeit...

Märchen: eine der schönsten Formen von Eskapismus – Flucht in die funkelnde Welt der einfachen Form

In einem Königreich, einer Monarchie, lebten die Brüder Grimm, aber die Monarchie hatte eine Verfassung. Ein König herrschte, wie im Märchen. Klug, weise, besonnen und gerecht. Klugheit, Weisheit und Besonnenheit, diese wichtigen Eigenschaften, die einen Menschen so besonders machen daß er sogar zum König taugt, man wünscht sie so manchem. Gerechtigkeit aber setzt voraus, daß ein Rechtsbewußtsein und ein Rechtssystem besteht. Daß Könige niemals wirklich so waren, das muß den Brüdern Grimm schon bewußt gewesen sein - haben sie sich vielleicht deshalb in die Märchen geflüchtet?

Das Scheitern der Vormärz-Revolution im Jahre 1848 führte dazu, daß sich das Bürgerturm aufs Private zurückzog, das Biedermeierzeitalter brach an. Alles bekam hübsche Häubchen, Schabracken, Stuhlhussen, Zierrat in den Häusern, in der Kleidung und im Kopf hielt Einzug. So erklärt sich vielleicht auch der Erfolg Fürst Bismarcks.

Wenig später umrankte der Jugendstil die Realitäten, das Fin de Siecle war zugleich das Ende der Wirklichkeit. Ein böses Wort für das, was danach kam, ist Dekadenz. Doch das erlebten die Brüder Grimm nicht mehr: Wilhelm stirbt 1859, Jakob vier jahre später. Bismarck, der deutsch-französische Krieg 1870/71 und alles was folgte erlebten sie nicht mehr. Ihr deutsches Wörterbuch aber wurde tatsächlich erst im Jahr 1961, nach 123 Jahren des Sammelns, Erfassens und Wiedergebens, fertig.

Die Brüder Grimm wollten eine Einigung ihres deutschen Vaterlandes, sie waren nicht revolutionär, nicht fortschrittlich, aber engagiert und konsequent. Das Wort hat nach ihrer Überzeugung eine durchaus politische Dimension: wer deutsch spricht, gehört zur Gemeinschaft. Daß da zahlreiche Märchen in ihrer Sammlung ursprünglich aus dem Französischen kamen, störte sie nicht, denn das gesamte Bildungswesen orientierte sich am französischen Vorbild, Hauslehrer und Gouvernanten sprachen französisch mit den Kindern, und auch die Brüder Grimm hörten sicher viele Märchen in französischer Sprache. Aber sie übernahmen sie als Erbe und deutschten sie ein.

Die Arbeit der Brüder Grimm war oft mehr wissenschaftlich als schöpferisch, außer in der Auswahl. Wilhelm Grimm litt darunter, nicht schöpferischer tätig sein zu dürfen. Das Sammeln, Erfassen und Wiedergeben genügte ihm nicht. So erfand den Märchenton, diesen unvergleichlichen Klang, der uns unversehens aus der harten Realität entschweben läßt in eine funkelnde Märchenlandschaft. Obwohl es doch oft um grausame Zustände geht, in denen arme Kinder leben, um Menschenfresser und Unglückszauber, um unausweichliche Schicksale, umfangen uns die Märchen doch so weichgespült, so „kindlich und heimelig, zugleich unpolitisch und züchtig“, wie der Autor Andreas Venzke („Die Brüder Grimm und das Rätsel des Froschkönigs“, Arena Bibliothek des Wissens) feststellt.

Warum fühlen wir uns so behaglich, kaum tauchen wir in die Welt der Märchen ein?

Ein guter König, der meist mit einer bösen Königin (oder seltener auch umgekehrt) gesegnet war - das rührt von der Heiratspolitik her. Die Königinnen werden wohl mehrheitlich nicht wirklich zufrieden gewesen sein mit ihrem Posten... Wer wünschte sich heute eine solche Monarchie, und sei sie auch noch so konstitutionell!

Im Märchen aber fühlt man sich gerade dort am besten aufgehoben. Wir schöpfen Kraft aus den Märchen, obwohl ihre Lebenswelt doch eher unangenehm wäre. Vielleicht fällt es uns leichter, die komplizierte Wirklichkeit besser zu erleben, wenn wir sie zunächst als Modell in einfachen Bildern betrachten? Wir machen die Strukturen einfach, übersichtlich, klar, um sie besser zu verstehen und finden so dann eine Lösung. Vielleicht aber wollen wir auch nur einmal für eine kurze Zeit etwas ganz anderes erleben, eine andere Welt, eine andere Zeit, eine andere Gesellschaft.

Da muß man nicht einmal Märchenfreund sein: was viele moderne Menschen weit von sich weisen, sich aber gleichzeitig Geschichten wie Starwars, Raumschiff Enterprise und anderen Space Operas hingeben.

Kommt der Anfang nicht immer ein bißchen bekannt vor: wir befinden uns im Jahr 2132 der Konföderierten Planeten – oder in einem Land weit weit weg, vor langer langer Zeit? Nur in die andere Richtung auf dem Zeitstrahl gereist, nur nach außen statt nach innen geschaut - und schon haben wir die perfekte Märchenwelt! Es gibt Monster, böse Zauberer in Gestalt von technologisch höherstehenden Lebensformen, finstere Potentaten die andere Spezies in ihren Bergwerken schuften lassen, es gibt Gefangenenplaneten und geheimnisvolle Welten, in denen andere physikalische Gesetze gelten - wie viel weiter entrückt ginge es denn noch! Es gibt die unerforschten Weiten, die nie ein Mensch zuvor betrat - der finstere Wald der Märchen... Die Handelnden sind souverän, klug, mutig und engagiert, und sie halten sich an den Kodex - erscheint uns das nicht ein bißchen wie das „Klug weise besonnen gerecht“ des Märchenkönigs?

Und immer siegt am Ende das Gute, das wissen wir die ganze Zeit. Vielleicht ist auch dies der Grund, warum wir uns in Märchen so wohl fühlen: wir dürfen die ganze Zeit wissen, daß am Ende alles gut wird. Und so leben wir glücklich zwischen Steuererklärung, Arbeitslosigkeit und Lebensmittelskandalen - bis ans Ende unserer Tage....

Marieta Hiller

Also, das ist ja das Dümmste was ich je gehört habe, daß Mohn dumm machen soll. Und ich muß es wissen, hab ich doch neulich erst in einer Bauernküche ein Säcklein Mohnsamen gefunden und mitgenommen! Ja, stimmt schon – ich hab vergessen zu fragen. Aber es war ja auch niemand zuhause, und die Tür stand offen und das Fenster auch... Man muß ja so eine arme Räuberbraut und Köhlerstochter nicht um jeden Preis in Versuchung führen! Und ich schwör, ich hab sonst nichts mitgenommen. Der Mohn – hmmmm, der war lecker! In Milch gekocht und aus dem Dibbe gelöffelt, das war ein Genuß.

Ich weiß, ich hätts nicht nehmen sollen. Wo ich doch die Bauerntochter auch noch kenne! Es ist nämlich keine andere als die, die einstmals von einem König geheiratet wurde. Und das kam so – ihr wollts doch bestimmt wissen, ich sehs euch doch an! Rückt her ans Feuer und lauscht:

den Leutchen in dem Bauernhaus ging es nämlich nicht immer so gut: einst hatten sie kaum mehr als unsereins, der unter Räubern ums täglich Brot bangen muß. Sie baten den König um ein Stück Land, auf daß sie selbst für ihren Unterhalt aufkommen könnten. Der König gewährte es, und bald geschah es, daß der Bauer just auf diesem Acker einen goldenen Mörser fand. Den Stößel aber, den konnte er nicht finden. Treudoof wie die Mannsleut halt so sind, brachte er das Goldstück zum König, aber auch der war ja ein Mann – ich sags euch, man hat ja nur Ärger mit dem Mannsvolk! Ach wenn wir Räuberweiber doch allein im tiefen Wald zurecht kämen, was wärs für ein freies Leben! - Aber weiter: der König also bekam beim Anblick des Goldmörsers blitzende Augen und forderte den Stößel dazu, konnte einfach nicht genug haben. So spann sich die Geschichte fort, und nur der Tochter, die in dem Bauernhaus lebt und der ich neulich das Mohnsäckchen gestohlen hab, der Tochter also ists zu verdanken, daß alles noch gut ausging. Aber was hatte sie für eine Arbeit bis es endlich soweit war! Nur weil sie klug und weise war – wie wir Weiber ja allgemein so sind – konnte sie ihren Vater vor dem Gefängnis retten, ließ sich auch vom König heiraten und half wo es ging. Der törichte König aber war einfach nicht zu retten. Er erkannte nicht, was für ein Goldstück ihm der Vater da mit seiner Bauerntochter in Wahrheit gebracht hatte. Er verstieß die Tochter, gewährte ihr aber, daß sie das Liebste mitnehmen dürfe.

Was tat die Gute nun? Sie kochte ihrem König einen guten Trunk aus Mohn, auf daß er bald in tiefsten Schlaf fiel und sie ihn ohne weiteres Drumherum aus dem Schloß und in ihre ärmliche Bauernkate bringen lassen konnte. Aber immer noch ging dem König kein Licht auf: sie mußte es ihm ganz langsam und in einfachen Sätzen erklären, bis er endlich erkannte, wie klug sie wirklich war.

Ob er auch erkannt hat, wie dumm er selber war – und das doch wohl, bevor er den Mohntrunk bekam – davon weiß ich nichts zu berichten. Und weil der König dafür sorgte, daß es ihr und ihrem Vater gut geht – denn er liebte sie doch von Herzen, wenn er auch dumm war – weil sie also jetzt alles hatte, was ihr Herz begehrte, deshalb dachte ich auch, daß so ein kleines Säckchen mit Mohnsamen sicher nicht auffällt, wenn ich es vorsichtshalber an mich nehme, bevor es noch jemand stiehlt! Es grüßt euch, bis wir uns mal wieder an einem Feuer im Räuberwald begegnen, euer Köhlers Bawweddsche aus dem finstern Odenwald!

M. Hiller

Es war einmal vor langer langer Zeit, als es noch keinen elektrischen Strom gab und die Häuser noch gemütliche Dachböden für ihre Hausgeister hatten.
Da lebte in einer ärmlichen Kate auf einer Waldlichtung ein armer Lohmüller in seiner Mühle. Es war Winter, und so schwieg die Mühle still, denn die Bauern brachten im Winter keine Rinde zum Klopfen.

Erst wenn die Säfte des Frühlings wieder in die Bäume stiegen, würde es wieder lebhaft werden im Wald. Dann kommen die Kinder, Frauen und Greise wieder zum Rindenschälen, liefern ihre Bündel in der Mühle ab, die dann die Gerberlohe daraus herausklopft. Klipp klapp, macht die Mühle dann, in jenen fernen Tagen, wenn die Schmetterlinge über bunte Blumenwiesen flattern und die Sonne warm vom Himmel scheint. Jetzt aber war Winter.

Kalt und grau waren die Tage, kalt und schwarz die Nächte. Tisch und Schüssel sahen keine fetten Würste mehr, nur Sauerkraut und Steckrüben. An so einem kalten grauen Tag stieg der Müller von seinem feuchten Bachgrund hinauf auf die waldige Höhe, um dem schwarzen Mann, dem Köhler, einen Besuch abzustatten. Auch er hockte müßig in seiner kalten Hütte, kein Meiler war zu bewachen, und auch die Räuber hatten sich seit langem nicht mehr sehen lassen in dieser kalten Zeit. Im Frühling und im Herbst brachten sie stets eine dicke Speckseite mit von ihren Raubzügen.

Im Winter aber war Hungerszeit: Kartoffel mit Salz aber ohne Schmalz war die gewöhnliche Speise der Köhlersleute. Als die beiden so, mit knurrendem Magen, durch den Wald strichen - natürlich waren sie auf der Pirsch, aber das dürft ihr dem Jagdaufseher nicht erzählen! - da kamen sie auch zum alten Bergwerk, aus dem übers Jahr das Erz geschürft wurde, das mit des Köhlers Holzkohle zu reinem Eisen wurde. Doch jetzt ruhte auch das Bergwerk.

Nur eine kleine Maus huschte aus dem finsteren Stollen, just als Köhler und Müller dort ankamen. Wie aber staunten beide, als die Maus mit feinem Stimmchen anhub zu sprechen! „Ach ich arme Maus, bin gerade noch dem Tod entkommen in diesem Herbst, und jetzt soll ich Hungers sterben?“ „Wie das, kleine Maus?“ fragte der Müller. „Nun, weißt du denn nicht daß die Menschen im Berg uns Mäuse als Wächter haben? Wenn eine von uns ohnmächtig wird, weil sich am Boden giftige Luft sammelt, dann wissen die Menschen daß es Zeit wird zu verschwinden. Wir Mäuse wissen das natürlich auch, und meist sind wir - husch wie der Wind - hinaus, bevor es eine von uns erwischt. In diesem Herbst aber, da mußten mich drei aus meiner Familie mühsam hinauszerren, denn ich habe es nicht rechtzeitig gemerkt.“

„Das wußte ich nicht!“ - „Ich auch nicht. Aber warum mußt du jetzt Hungers sterben? Hast du denn keinen Vorrat angelegt im Herbst?“ fragten Müller und Köhler. Vergessen hatten sie schon, daß es eine Maus war, mit der sie da sprachen, so verständig schaute die Maus beim Erzählen.

„Oh, ja. Das ist eine dumme Geschichte. Und ihr dürft sie keinesfalls jemandem erzählen, denn sie hat mit dem Kleinen Volk zu tun!“ Müller und Köhler versprachen es, und so begann die Maus zu berichten:

„es war vor wenigen Tagen, und ich labte mich wie gewohnt an den guten Äpfeln, die vom Baum auf der Hollenwiese fielen. Auch vom Brot, duftend frisch aus dem Hollenofen, naschte ich ein wenig. Doch plötzlich springt eine riesige schwarze Katze auf mich, mit weit aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen! Gerade noch konnte ich mich in Sicherheit bringen, und aus meinem Versteck hörte ich, wie eine häßliche Alte zu der Katze sprach: ‘der Apfelbaum will gerüttelt und geschüttelt werden, das Brot ist schon lange gut, soweit stimmt ja alles. Nun aber hilf mir die alte Hexe mit ihren Federbetten finden, ich will ihr schon helfen, meine liebe Tochter mit Pech zu überschütten!’
Ohje ohje dachte ich mir da, das hört sich nicht gut an... Die Alte ließ die Katze zur Wache beim Ofen zurück, so daß ich nicht aus meinem Versteck konnte. Und die Katze tat ihre Arbeit gut! Was sie aber nicht wußte, während sie dort am Ofen hockte und mein Schlupfloch nicht aus den Augen ließ, das war daß ich einen zweiten Ausgang aus meinen unterirdischen Gängen wußte. Der lag direkt unter dem Hollerbusch an deiner Mühle, Müller, und dort schlupfte ich hinaus. Aber als ich in deine Vorratstöpfe blickte, da traten mir Tränen in die Augen, und ich lief flugs weiter.
Doch auch bei dir, Köhler, ist Schmalhans Küchenmeister. Und mit Verlaub, Kartoffeln mit Salz aber ohne Schmalz sind meine Sache nicht. So kam ich hierher, zum Bergwerk.
Aber meine Hoffnung auf eine deftige Wurststulle in einer der Bergmannstaschen wurde enttäuscht, still liegt das Bergwerk und tot. Und ich habe solchen Hunger!“ So sprach die Maus, und die beiden Menschen konnten sie gut verstehen, denn auch ihnen knurrte der Magen.

„Liebe kleine Maus,“ sprachen sie, „wie können wir dir helfen?“ „Wollt ihr das wirklich tun? So soll es euer Schaden nicht sein! Jagt nur die böse schwarze Katze vom Ofen fort, so will ich zu Frau Holle springen und ihr von der häßlichen Alten berichten, die auf dem Weg zu ihr ist. Vielleicht ist es noch nicht zu spät!“ Köhler und Müller versprachen der Maus in ihre winzige Pfote hinein, daß sie die Katze schon vertreiben wollten. Beide waren neugierig, wie eine kleine Maus es wohl anstellen wollte, ihnen beiden die Bäuche zu füllen. Doch weil das Mäuslein gar so wunderlich war, dachten sie sich: „batt’s nix, so schad’s nix.“

Der Müller hatte einen alten Sack bei sich, denn beide hatten sich ja zum Wildern verabredet. Da hinein kam jetzt die schwarze Katze, die das Fell sträubte und einen gewaltigen Buckel machte. Doch so sehr sie auch fauchte und schrie, es half ihr nichts. Und schon witschte die kleine Maus aus ihrem Loch gleich beim Ofen und sprang in großen Sätzen hinauf zum Haus der Frau Holle. Man sah sie als winziges Pünktchen die Stufen hinaufhüpfen, gerade drei Schritte vor der häßlichen Alten. Da plötzlich zischte es, und die häßliche Alte verschwand!

Nur eine schwarze Rauchsäule stieg zum Himmel auf. Der Sack des Müllers aber, in dem die schwarze Katze war, der war auf einmal merkwürdig schwer geworden. Gespannt warteten Köhler und Müller, was wohl weiter geschehen würde. Es dauerte auch gar nicht lang, da schaute die Holle aus ihrem Fenster heraus, schüttelte gewohnheitsmäßig ein bißchen die Federn aus und rief die beiden Menschen herbei. „Köhler und Müller seid ihr, und könnt vor Hunger nicht schlafen?“

Beide nickten und traten zaghaft ein paar Schritte näher. „Nun, so schaut nur in euren Sack! Ihr habt der Bergwerksmaus geholfen damit sie mich vor der bösen Alten warnen konnte, die immer so gemein zur Goldmarie ist und die Faulheit ihrer anderen Tochter lobt. So sollt ihr auch euren Lohn bekommen!“ Der Köhler sah den Müller an, der Müller sah den Köhler an. Beide fürchteten sich davor, in den Sack zu schauen, denn die Holle war sehr mächtig.

Doch als sich der Müller endlich ein Herz faßte und den Sack öffnete, da wagte der Köhler einen Blick hinein, und was glaubt ihr wohl, was darinnen war? Eine goldene Spindel lag obenauf. „Wann immer du Hunger hast, Köhler, laß deine Frau einen Faden spinnen. Die schönsten glänzenden Würste sollen daraus werden, die teilst du mit dem Müller! So werdet ihr nie mehr Hunger leiden müssen. Unter der Spindel fand der Köhler, der sich nun ein Herz faßte und in den Sack hineinlangte, ein frisch gebackenes duftendes Brot und rotbackige Äpfel, so saftig und knackig, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Nun griff auch der Müller beherzt in den Sack und zog einen dicken Wurstring heraus.

Für die Maus aber war ein herzhafter Käse mit vielen Löchern drin, und aus denen schaut sie jetzt zufrieden und satt heraus, und das Märchen ist aus.

Marieta Hiller, in den Rauhnächten Dezember 2012

 "Fast hätte es am Heiligen Abend im Zauberwald einen Aufstand gegeben:

zuerst kam ein sehr aufgebrachter St. Nikolaus angestampft, warf seinen Sack mit wütendem Schnauben auf den Waldboden und schimpfte: „Weihnachtsmänner aller Orten, nichts als alberne Weihnachtsmänner mit dämlichen Zipfelmützen, einer dämlicher als der andere! Den Nikolaus braucht heute wohl gar keiner mehr!“
Nur mühsam gelang es der alten Hutzel und den anderen Angehörigen des Kleinen Volkes mit viel Geduld und gutem Zureden, den Nikolaus etwas zu besänftigen.

Doch kaum hatte er sich friedlich wenn auch nicht zufrieden auf einem Baumstumpf niedergelassen, da kam schon der nächste: „wie soll man denn hier noch in Ruhe alte Großmütter oder Geißlein fressen, von kleinen Mädchen ganz zu schweigen! Pah, böser Wolf, daß ich nicht lache! Problemwolf sagen sie heute zu mir, Problemwolf! Dafür bin ich doch völlig überqualifiziert, aber keiner macht sich Gedanken über das Berufsbild des Bösen Wolfes. Ruck zuck wird man da zurückgestuft, ob man will oder nicht! Keine guten Zeiten...“

Auch dem armen bösen Wolf ging es also nicht gut, doch es kam noch dicker: aus dem Sack vom Nikolaus kullerten drei rotbackige Äpfelchen und fünf Nüsse heraus und beklagten mit feinen Stimmchen: „im Straßengraben verrotten unsere Brüder und Schwestern, die Apfelbäume auf den Wiesen rüttelt niemand und schüttelt niemand mehr, und keiner pflückt uns wenn wir reif und saftig sind! Statt dessen kaufen sie Äpfel aus Südafrika!“ Und die Nüsse stimmten in das Klagelied ein: „uns braucht auch keiner mehr, wir sind viel zu hutzelig und schief und krumm. Daß wir viiieeel besser schmecken als die kalifornischen Riesenwalnüsse, ist den Menschen ja sowieso egal.“

„Ach, wär das schön, wenn es euch bei uns im Supermarkt zu kaufen gäbe, ihr lieben Äpfel und Nüsse!“ seufzte da eine Verkäuferin, die zufällig gerade des Wegs kam und ließ sich bei der wunderlichen Gesellschaft mitten im Zauberwald nieder. „Aber ich muß im August schon Schokonikoläuse verkaufen und bekomme nichtmal Weihnachtsgeld.“ - „Wenigstens hat sie Schokonikoläuse gesagt und nicht Schokoweihnachtsmänner,“ grummelte da der Nikolaus in seinen langen weißen Bart hinein.

„Hoppla!“ stolperte da ein Jogger mit Walkman mitten hinein in all die seltsamen Figuren, die sich da unter einem großen alten Haselnußbusch versammelt hatten. „Verzeihung, aber ich hab ja immer nur dieses Weihnachtsgedudel im Ohr, und auf den Weg hab ich auch nicht geschaut, und so wäre ich beinah über euch gefallen! Aber was macht ihr eigentlich hier?“

„Wir halten Rat, was es mit der ordentlichen Weihnacht auf sich hat!“ riefen da die Äpfel, die gerade noch Glück hatten und nicht unter die Joggingschuhe geraten waren. Auch die Nüsse waren flugs zur Seite gerollt. „Aber sag, was für ein Weihnachtsgedudel denn?“ wollten sie wissen, denn Nüsse - ihr wißt es vielleicht nicht - sind sehr neugierig.

„Oh wißt ihr, ich arbeite beim Sender, erstes Programm. Und da hör ich mir doch auch an, was meine Kollegen so bringen. Aber die Musik dazwischen: einfach gräßlich, ein Weihnachtsschlager nach dem anderen, und das schon seit November!“ Darauf wußte keiner vom Kleinen Volk mehr etwas zu sagen. Wie schrecklich, dachte ein jedes für sich, bei den Menschen wollt’ ich wirklich nicht mehr leben müssen...

Ein altes Pferd auf der Weide gleich beim Wald konnte wohl offenbar Gedanken lesen, denn sogleich wieherte es herüber: „und ich erst! Früher war ich stolzes Kutschpferd und durfte zu Weihnachten die Kutsche durchs Städtchen ziehen, festlich geschmückt und mit dem Hafersack! Heute - ach, da haben uns ja die Rotnasigen Garderobenständer die ganze Arbeit abgenommen.“ Noch einmal wieherte es traurig, dann waren alle still.

Schließlich seufzte die alte Hutzel und sprach: „die Menschen brauchen uns  nicht mehr, nach Apfel Nuß und Mandelkern verlangt es sie nicht, auch selbstgedichtete Sprüche können sie nicht mehr, und das Wünschen,“ - hier seufzte sie wieder, „das Wünschen ist ganz und gar aus der Mode gekommen. Weihnachten ist bei den Menschen etwas ganz anderes geworden als es einmal war.“ Da gaben ihr alle Recht, aber die alte Hutzel war noch nicht fertig: „laßt die Menschen doch ihr Weihnachten feiern, mit all ihrem Kitsch und Überfluß, was haben wir damit zu schaffen? Wir haben unser Weihnachten, Weihnachten im Zauberwald. Und wir wissen auch noch, was es mit dem Wünschen auf sich hat! Wenn wir uns etwas wünschen, dann ist es etwas, das einem anderen Wesen nützt. Menschen wünschen sich neue Kleider, ein Auto oder eine Flugreise in die Karibik. Wer hat davon schon etwas?

Wir wollen uns jetzt alle etwas wünschen, schreiben es auf und hängen es an unseren Wunschbaum hier im Zauberwald. Dort sollen unsere Wünsche hängen bis die Menschen sich besinnen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät!“ Eifrig nickten der Nikolaus, jetzt schon fast ganz besänftigt, der böse Wolf und die Äpfelchen und Nüsse, und von der Weide wieherte der alte Kutschgaul. Ein dickes Märchenbuch, das bisher noch gar nichts gesagt und nur tief geseufzt hatte, blätterte sich nun auf und rief: „ihr dürft meine Seiten verwenden für eure Wunschzettel! Mich liest doch sowieso keiner mehr - wer glaubt denn noch an Märchen!“ Und schon teilte es seine Seiten an alle aus.

Verwundert sahen Verkäuferin und Jogger, wie ein jedes vom Kleinen Volk geschwind seinen Wunsch drauf schrieb, sogar das Pferd rief einen Kobold zu sich und diktierte ihm flüsternd, was auf seinen Zettel geschrieben werden sollte. Was sich Äpfel und Nüsse wünschten, könnt ihr euch sicher denken. Und so empfingen auch die beiden Menschen ihren Zettel, eine Seite aus einem alten dicken Märchenbuch, und durften einen Wunsch aufschreiben. Lange mußten sie nachdenken, denn was sie hier gehört hatten, das war etwas für Menschen ganz Neues. Und so bedachten sie sich wohl, und schließlich huschte ein Lächeln über ihre Gesichter, und sie schrieben. Schreibt nun auch ihr!"

Diese Geschichte erzählte mir Kobold Kieselbart am 24. Dezember 2012 im Zauberwald, nachdem er sie selbst erlebt hatte... Den Wunschbaum könnt ihr ganz leicht finden: öffnet euer Herz und denkt damit!

M. Hiller

Ein Märchen von Kobold Kieselbart für alle Leseratten

Also, eigentlich - eigentlich hab ich ja jetzt alle Hände voll zu tun! Dem Christkindchen helfen, sein Mehlweibchen, den Bohlischbock, die Stoppelgans, den Benznickel und all die andern vom Odenwälder Weihnachtszug wiederzufinden... Im Zauberwald dafür sorgen, daß alle genügend Vorräte für den Winter eingelagert haben (die Eichhörnchen sind mal wieder recht nachlässig gewesen, weil es ja sooo viele Bucheckern und Eicheln gibt), - wie gesagt, eigentlich hab ich keine Zeit. Und jetzt muß ich mich auch noch drum kümmern, daß die Bücher in dieser Bibliothek hier nicht weiter angefressen werden.

Ich weiß schon, wer das mal wieder war: der Nagekäfer! Natürlich gibt es da auch noch Termiten, Staubläuse, Milben, aber das hier: das war der Nagekäfer. Rispelraspel knispelknaspel - er hat Bücher nämlich zum Fressen gern! Der Nagekäfer mußte letztes Jahr über das WeltWichtelWissen Nachricht vom Geburtstag der Brüder Grimm erhalten haben und dachte sich sicher: ah! 200 Jahre - das wird ein Genuß! Und schon erschnüffelte er die hochbetagten Schriften, drang durch eine Ritze ein in die Bücherstube und machte sich über den Leckerbissen her. Und als er so in Grimms Märchen stöberte, was denn wohl am leckersten wäre, stieß er auf ein Märchen, das unseren Märchenfreunden heutzutage sicherlich völlig unbekannt ist! Denn hastenichtgesehn, rispelraspel knispelknaspel - da war es um das Märchen geschehen. Nun ist es nur noch ein Häufchen Nagekäfer-AA. Ich aber, ich habe es gelesen, bevor der gefräßige Käfer sich drüber hermachte! Und wenn ihr ganz still sein wollt, so mucksmäuschenstill, daß man die Buchstaben auf den Buchseiten atmen hören kann, dann will ich euch das Märchen vom Bücherwurm erzählen.

Das Märchen vom Bücherwurm

Vor langer langer Zeit, noch bevor die Brüder Grimm einer nach dem andern das Licht der Welt erblickten, da lebte in Wolfenbüttel ein Bibliothekar. Gotthold Ephraim (so seltsame Namen hatten die Menschen jener Zeit nun mal) Lessing war sein Name. Der Erfinder der Bibliothekare war zugleich auch der erste Bücherwurm: er las und las und las, und beim Umblättern einer jeden Seite schnippte er die Läuse, Milben und Käfer über den Buchrand ins Verderben. Bald schon herrschte helle Aufregung in der herzoglichen Bibliothek, wenn nur sein markanter Schritt - denn ein bißchen eingebildet war er schon, der alte Gotthold Ephraim - vor den Türen des Bücherheiligtums erscholl. Einmal trat er sogar beinahe auf mich drauf, aber ich hatte ja damals auch eigentlich nichts dort zu suchen. Das ist eine andere Geschichte, und vielleicht bekommt ihr sie zu hören, wenn wir wieder zusammenkommen. Gotthold Ephraim also, der von allem Krabbelgetier gefürchtete Rächer der Bücher, putzte so ganz nebenbei beim Lesen Lesen Lesen sämtliche Bücher aus. Bald schon gab es eine wahre Völkerwanderung zu Wolfenbüttel: Bücherläuse, Nagekäfer und Staubmilben hatten ihr Ränzlein gepackt und zogen rispelraspel knispelknaspel zum Tor hinaus. Ob sie jemals zurückgekehrt sind?

Davon weiß man zu Wolfenbüttel heut nichts mehr, auch Gotthold Ephraim schweigt sich drüber aus. Ich aber hörte und sah so heimlich aus meinem Winkel einiges, was heute nun endlich einer Klarstellung bedarf. Denn die Menschen, vor allem die Belesenen, die nannten Gotthold Ephraim bald nur noch „den Bücherwurm“. Und er, nun - eitel war er auch noch - er ließ es sich gerne gefallen, schrieb gar bald eine Geschichte darüber und vergaß sie dann in einem Buche, wo sie steckenblieb. Gemeinsam mit dem Buch (des Titels erinnere ich mich nicht) gelangte sie auf verschlungenen Pfaden nach Steinau an der Straße, und dortselbst verbrachte sie im Schutze ihres Buches ungewissen Titels viele Jahre im Regal. Bis eines Tages - ihr ahnt es schon! - ein Mensch ans Bücherregal trat und gerade dieses Buch herauszog. Zuerst nahm er es behutsam in die Hand, schnupperte ein wenig daran, atmete den bedeutungsschweren Staub der Zeiten ein. Endlich, er hatte sich feierlich an seinen Schreibtisch gesetzt, zuvor einen Berg Zettel von hier nach da, einen Stapel Bücher von da nach hier geräumt, endlich also schlug er den Deckel auf.

Da fing eine Zeichnung im Exlibris (ihr wißt hoffentlich, was ein Exlibris ist?) an zu zappeln, sie ruckelte und zuckelte und kam endlich frei. Behände sprang sie von der Seite in die Höhe, wand sich nach rechts und nach links, vergaß auch nicht nach hinten zu schauen und wuselte schließlich aus dem Buch heraus. Das aber war niemand anderes als der tatsächliche Bücherwurm!

All die vielen Jahre hatte er in jenem Buch unbekannten Titels geschlafen wie einst Dornröschen in seinem Schloß. Endlich aber hatte Jacob Grimm - denn kein anderer war’s der das Buch in seiner Jugendzeit zu Steinau geöffnet hatte - ihn zu neuem Leben befreit. Und wie freute sich der Bücherwurm! Fröhlich wimmelten seine vielen Beinchen, die eine Hälfte rechts und die andere Hälfte links von seinem Ringelkörper, von Buchrücken zu Buchrücken, stöberte in den Stapeln auf Grimms Schreibtisch und ließ sich endlich in einem Heft nieder, das ihm gemütlich erschien. „notizen“, stand darauf, in einer akkuraten säuberlichen Handschrift. „Nun,“ dachte sich der Bücherwurm, „so will ich denn fortan in den notizen dieses Mannes leben“ - (ihr müßt wissen, jener Jacob Grimm pflegte alles klein zu schreiben, auch seine notizen! Ja, die Menschen sind schon seltsam...).

So geschah es, ohne daß auch nur ein Mensch etwas davon gemerkt hätte. Ich aber, ich hatte es wohl bemerkt - doch ich schwieg fein still. Fortan mußten die Bücher im Hause Grimm nicht länger mehr unter Staubmilben, Nagekäfern und Bücherläusen leiden. Denn der Bücherwurm hielt alles reinlich und in guter Ordnung. Was aber dem guten Jacob eines Tages auffiel, das war ein Zettel in jenem Buche, von dem wir nicht wissen wie es heißt und wer es einst geschrieben. Mit Spannung las er, was dort geschrieben stand. Bald schon erhellte ein schelmisches Lächeln sein junges Gesicht, und er stürzte aus der Stube. „Wilhelm, Wilhelm! Schau nur, was ich gefunden habe!“ Und beide Brüder, der träumerische Wilhelm und der zettelbesessene Jacob, hockten bis spät in die Nacht über jenem Zettel, auf den vor langer Zeit unser Gotthold Ephraim seine Geschichte vom Bücherwurm notiert hatte. Heimlich im Regal, verborgen zwischen Klopstock und einer Kladde voller Zettel, beobachtete der Bücherwurm genau, was die Brüder sich dort gerade erdachten.

Nun wollt ihr sicher auch wissen, was es denn war, was sie erdacht! Tja, das ist so eine Sache; denn man weiß es nicht.

Ich war an jenem späten Abend schon ins warme Bettchen gehuscht, der Bücherwurm verrät weiters kein Wörtchen als das, was bis hierher berichtet werden konnte; die Brüder, so schreibfreudig sie auch sonst waren, verloren kein Tröpfchen Tinte darüber ... Kurz gesagt, niemand weiß es. Auch jener Zettel vom Gotthold Ephraim ist und bleibt verschwunden. Möglich wär’s, daß das Fenster offenstand, denn es war ein lauer Frühsommerabend. Möglich auch, daß die Geschichte vom Bücherwurm aus dem Fenster flatterte, gerade als die Brüder den Entschluß faßten, fortan Märchen und ähnliche Geschichten zusammenzutragen. Und gut möglich, daß unten auf der Straße all die vertriebenen Staubmilben, Bücherläuse und Nagekäfer in jener Nacht ein Festmahl hielten... Rispelraspel knispelknaspel!

So, und nun ist Schluß mit Geschichtenerzählen, klappt eure Münder nur wieder zu! Wenn ihr könntet, so dürftet ihr das Märchen ruhig lesen, das die Brüder Grimm aus jenem Zettel einst erdichteten. Doch ach, nicht nur der Zettel, nein auch ihre Geschichte fiel den gefräßigen Klauen des Nagekäfers anheim. Nichts, auch kein Fitzelchen davon, blieb bestehen. Rispelraspel knispelknaspel! Euch bleibt nur, dorthin zu gehen, wo der Bücherwurm heutigentags zuhause ist: ihr denkt es euch sicher schon - es sind die Büchereien, die Buchgeschäfte und Bibliotheken, besucht ihn dort nur einmal, vielleicht trefft ihr ihn ja und vielleicht seid gerade ihr die ersten, denen er den Rest der Geschichte erzählt...

Es grüßt euch aus dem winterlichen Zauberwald Euer Kieselbart!

(Marieta Hiller, anläßlich der Bibliotheksausstellung im Wildpark Knüllwald 2013 „Wir haben Grimm zum Fressen gern“)

Hallo! Kennt ihr eigentlich Gandalf den grauen Ganter?

Er lebt bei einem Menschen - ja, das gibt es wirklich! Ein Mensch, der Gänse liebt, aber nicht zum Fressen gern hat...
Aber hört selbst, was Gandalf euch zu sagen hat: „Wirklich wirklich, zu beneiden bin ich. Ich, Gandalf, liebe meinen Menschen, watschle ihm hinterher wo auch immer er hingeht, picke meine Körner mit ihm am Tisch und stecke meinen Kopf neben seinem Bett unter den Flügel, wenn es Abend wird.

Ihr glaubt das nicht? Von so etwas berichten schon die alten Griechen, lest nur mal euren Plinius! Niemals, niemals würde mein Mensch mich essen - oder eine meiner armen Gevatterinnen. Arm dran sind sie, die Gänse. Jetzt ist wieder die Zeit, wo all ihr Gezeter und Geschrei nichts mehr hilft - aufgegessen werden sie alle ohne Ausnahme! Schrecklich, schrecklich ist ihr Leben: eingepfercht in engen Käfigen ohne Bewegung, ohne Freiheit, ohne Fröhlichkeit müssen sie wachsen, wachsen, wachsen. Die Ärmsten bekommen davon Knochenbrüche und Atemnot, und die Gelenke tun ihnen weh.

Nur zwölf Wochen währt ihr Leben, dann werden sie dahingeschlachtet... Besser, gack gack, besser geht es den Wenigen, die auf die Wiese dürfen, bevor sie gegessen werden. Beim Biobauern in unserem Dorf zum Beispiel, gack gack, da dürfen sie raus, so oft sie wollen. Und sie dürfen wenigstens ein bißchen länger leben, und sie müssen nicht mit Abertausenden ihresgleichen den Stall teilen...

Älter, gack gack, älter als alle Gänse bin ich schon: im Frühjahr watschle ich das 21. Jahr über diese Erde! Einzig die eine oder andere Feder muß ich herschenken: denn mein Mensch ist Zeichner, und er weiß die Güte meiner Federkiele zu schätzen, gack! Aach gackgackgack, ach wenn ich nur dran denke, wird mir ganz schwindlig: nicht nur gegessen werden meine Vettern und Cousinen, nein aufs Gröbste gerupft werden sie obendrein zuvor! Brutal und lieblos von Menschen zum Frieren verurteilt, nur damit die sich die Daunen in Kissen und Decken stopfen können - ungerecht, gack gack, ungerecht!

Dabei - und jetzt verrate ich euch ein Geheimnis, gack gack, dabei schuf Gott der Herr das Geflügel am fünften Tag, nur einen Tag vor den Menschen! Sind wir damit nicht etwas ganz Besonderes? Schaut uns nur an, wie elegant wir den Hals schwingen, wie wir unser glänzendes Gefieder putzen, wie wir alle gemeinsam über grüne Wiesen watscheln und uns gackernd unseres Lebens erfreuen - aber ach, das könnt ihr ja alles gar nicht sehen! Ihr kennt uns ja nur knusprig gebraten auf dem Teller, mit Eßkastanien gefüllt und mit Knödeln geschmückt...

Traurig, traurig ist das. Früher - also ganz früher, als die Menschen noch an Mythen glaubten, da wußten sie auch, daß wir Gänse ganz besondere Wesen sind. Schließlich sind wir es, die im Märchen für Glück und Wohlstand unter den Menschen sorgen. Wir sahen Gefahr und sogar ein klitzekleines bißchen in die Zukunft, wir halfen dem Menschen, Krankheiten zu heilen. Da waren wir Gänse heilig, ein treuer Begleiter des Menschen, und wir gaben das Unsere gern: unser Fett gegen Gicht, unser Blut geben Fieber, unsere Knochen zum Wahrsagen, und was wir zu Lebzeiten fallen ließen, das half auch noch ein bißchen! Gack!!!“

Tja, liebe Leute, das ist die Botschaft die Gandalf der Ganter euch sagen wollte... Mir bleibt nur noch eins: schaut genau hin, wo euer Weihnachtsbraten herkommt, und laßt euch nur dann eine knusprige Gänsekeule servieren, wenn ihr sicher seid, daß die Gans ihr Leben glücklich auf der Wiese verbracht hat. Ihr seid es Gandalf schuldig...

Dies kann euch aus dem Zauberwald berichten: Euer Kieselbart

Glückssteine und Sternenstaub - so tragen wir alle gegenseitig zu unserem Glück bei:

Alles das, was ihr euch selber wünscht, das wünschen euch alle die auf diesen Seiten etwas zu wünschen haben, und zwar von ganzem Herzen.

Was, ihr glaubt nicht an Kobolde? Nicht an Elfen, Feen, Zwerge und Trolle? Am Ende nicht mal an Drachen??!
Dann - tja dann wissen auch wir Kobolde nicht, wie es mit euch weitergehen soll...


Vielleicht hilft euch ja diese Geschichte:

Wie das früher mit den Drachen gewesen ist - ein Tatsachenbericht von Kobold Kieselbart

einst, als die Welt noch voller Drachen war, feuerspeiender, fauchender und fliegender Drachen, da stimmte das Gleichgewicht der Erde und all ihrer Bewohner noch. Man ging eben einfach nicht vor die Tür, wenn ein Feuerschweif am Himmel zu sehen war! Für alles gab es seine Zeit: für traute Spaziergänge durch Wald und Wiesen, für heimliche Stelldicheins dort wo der Wald am dichtesten war, für furchtsame Wanderungen allein durch nebliges Dickicht oder für fröhliches Herumhüpfen auf sonnigen Blumenwiesen. Und es gab eben auch die Zeit, im Haus zu bleiben.

Das klingt leicht, aber ihr werdet schon gemerkt haben, wie schlimm es ist, frisch eingeschneit zu sein und auf Auto, Bahn oder Flugzeug angewiesen zu sein. Das Entscheidende ist, daß es sie gab, im Haus zu bleiben: die Zeit. Und so ist sie etwas sehr Kostbares geworden. Und lang ist sie, so lang, daß niemand mehr sich richtig an Drachen erinnern kann. Viele Jahrhunderte wurden von jenen schillernden krallenbewehrten Flugwesen bevölkert, und nicht nur Schrecken und Verderbnis brachten sie den Menschen...

Die meisten Dinge, die die Menschen heute noch über Drachen wissen, sind haarsträubend falsch - laßt es euch von einem Kobold gesagt sein! Stellt euch nur mal vor, die Drachen hätten sich dereinst Tag für Tag von hübschen Jungfrauen ernährt: gäbe es euch dann heute? Und wie man mir von kundiger Seite aus versicherte, sind Jungfrauen - zumal sehr selten zu finden - nicht sonderlich schmackhaft, weil zu mager...
Was aber das Schlimmste an der Sache ist, das ist nicht der viele Unfug der über Drachen verbreitet wird von Menschen, die es vielleicht sogar gut mit ihnen meinen. Das ist vielmehr die Tatsache, daß kein Mensch mehr wirklich an sie glaubt. Kein Wunder, daß ihr noch nie einen Drachen gesehen habt!

Auch wir - Kobolde, Elfen, Feen, Zwerge und Trolle - auch wir werden nur für diejenigen unter euch sichtbar, die an uns glauben. Andere Menschen können uns nicht sehen, allenfalls bilden sie sich manchmal ein, Gesichter seltsamer Wesen im Nebel zu erkennen, insbesondere nach erhöhtem Genuß alkoholischer Getränke...
Das macht uns nicht wirklich etwas aus, wir leben fröhlich unter Wurzeln, hinter Steinen, in den Kronen der Bäume und zwischen den Grashalmen der Wiesen. Einige von uns auch tief unter der Erde in geheimnisvollen Gängen zwischen allerlei Glitzerzeugs...

Bei den Drachen ist das anders: Drachen sind sehr sensible Wesen, und es macht ihnen ungeheuer viel aus, daß kein Mensch mehr an sie glaubt.
Dicke Tränen vergießen sie aus Kummer, und noch mehr grämt es sie, daß die Menschen sich wie wild auf ihre versteinerten Tränen stürzen, die sie für Tausende und Millionen ihres Geldes verkaufen können. Aber woher diese "Diamanten", wie sie sie nennen, stammen - das ist ihnen gleich. Schlimmer noch für die Drachen ist es, daß sie kein Feuer speien können, wenn sie traurig sind. Nur jämmerliches Fauchen entweicht ihren Nüstern, ohne jede Glut, ja ohne einen Funken. Und so haben sie eines Tages beschlossen, aus eurer Welt zu verschwinden und zu warten, bis eine bessere Zeit anbricht...

Ihr aber sollt wissen, daß eure Zeit nicht die Beste ist, auch nicht die Einzige, und daß andere Wesen sehr viel mehr Zeit haben zu warten. Denn Zeit ist etwas sehr Kostbares, vor allem für euch ... Und mit Kostbarkeiten kennen wir Kobolde uns schließlich aus...

Diese Geschichte habe ich am 25. Dezember 2010 für alle die Menschen aufgeschrieben, die es mir wert sind, ihnen Zeit zu widmen, deshalb nehmt ihr euch bitte die Zeit, sie zu lesen und zu bewahren ... Euer Kieselbart

 

 
 

Es war einmal ein alter Jägersmann, der lebte tief im Wald in einer Hütte, auf einer winzigen Lichtung inmitten hoher schweigsamer Buchen, beschützt von einem Holunderbusch, der nahe des Brunnens wuchs. Schon seit Urzeiten lebte hier immer ein Jägersmann, der den Brunnen im Wald hütete, und das war eine wichtige Sache. Denn einst lange vor dem Beginn unserer Zeit gab es ein Vermächtnis, eine Abmachung zwischen dem alten Geschlecht der Wulfen und den Menschen, die zu jenem verlassenen Ort fanden. Der Ort, seit Urgedenken Wulfenborn oder Wolfsborn genannt, war seit grauer Vorzeit Tränkbrunnen derer von Wulfen. Doch auch die Bauern führten ihr Vieh hierher zur Tränke, und sie fürchteten sich vor den Wölfen. Und so kam es zu jenem Abkommen, in dem die Menschen und die Wölfe ihr Miteinander festlegten. Man muß nämlich wissen, daß es nicht der Mensch war, der den Wolf bändigte. Die vielen schönen Märchen, in denen ein böser Wolf auftaucht, die brauchen ihn eigentlich nur, damit etwa unartige Kinder ihre Lektion aus der Rotkäppchen-Affäre lernen können. Denn der Wolf ist in Wahrheit kein bißchen böse, und um ein Vielfaches sozialer als die Menschen. Und daß der heutige Haus- und Hofhund einst vom Menschen aus dem Wolf herangezogen worden ist, das ist ein besonders dreistes Märchen: in Wahrheit hat der Wolf nämlich den Menschen so lange nach seinen Vorstellungen beeinflußt, bis er selbst zum treuherzigen Haushund geworden war – eine dumme Geschichte, für die Wölfe jedenfalls. Aber der Mensch duldet eben nur jemanden, der zu ihm aufblickt aus treuen braunen Augen. Ein Wolf aber ist dem Menschen ebenbürtig. Dies meinten jedenfalls einige Wölfe, die sich von Anbeginn an aus dieser Angelegenheit herausgehalten und sich fern vom Menschen in die Wildnis zurückgezogen hatten. Mit Kopfschütteln, aber auch mit ein wenig Neid in den schmalen gelben Augen, blicken sie von ferne auf das Hund-Mensch-Gespann. Genau eine solche Wildsippe waren die Wulfen, die am Wolfsborn im Wald hoch über dem Werratal zu trinken pflegten. Kaum ein Mensch kennt jedoch das Geheimnis, das hinter dem Vermächtnis steckt. Einer der Urvorfahren der Wulfen, Eisengrimm Wolfhart zu Welpenstein, traf dereinst diese Abmachung mit dem Schultheißen des nahegelegenen Suebada, einem kleinen Dorf an der Werra. Natürlich wußte das Dorf in jenen Tagen im Nebel der Urzeit noch nicht, daß es einstmals Suebada heißen würde, aber es war schon da, und es war ein Dorf, und es hatte einen Schultheißen. Dieser Schultheiß, sein Name wurde nicht überliefert, fürchtete sich vor nichts. Und als seine Dorfmannen ihn baten, etwas gegen die umherstreifenden Wölfe am Brunnen zu unternehmen, da setzte er sich eines Abends mutterseelenalleine dorthin und erwartete die Wulfensippe. Kaum dämmerte es, da hörte er ihr Heulen von ferne, und es kam immer näher! Doch da er ja einer war, der sich vor nichts fürchtete, so tat er das auch jetzt nicht. Ganz nah war das Heulen bereits, und sogleich erschienen sie schattengleich und lautlos aus dem hohen dunklen Wald: zwölfe an der Zahl, grau und mit gelben Augen. Ohne den Schultheißen eines Blickes zu würdigen, traten sie an den Born um zu trinken. Der aber faßte sich ein Herz und sprach den Anführer der Wulfen an:

„Edler Wulfe, gestattet Ihr mir, Euch untertänigst ein Angebot zu unterbreiten?“

- Eisengrimm richtete stumm seine gelben Augen auf den furchtlosen Menschen, dann senkte er den Kopf wieder hinab zur Tränke. Der Schultheiß dachte schon, sein Unterfangen sei vergeblich, wagte es jedoch nicht, sich zu erheben und zurück ins Dorf zu gehen. Da hob Eisengrimm den Kopf und sprach zu ihm:

„Ein Angebot? Nun, so laß hören!“

Und so kam es, daß Eisengrimm am folgenden Abend seine Klaue auf ein Dokument drückte, das der Schultheiß bereits unterzeichnet hatte, und das festschrieb, daß die Wulfen und die Menschen des Dorfes, das später einmal Suebada heißen würde, einander in Frieden und gemeinschaftlich an diesem Brunnen begegnen sollten. Denn Wasser ist das kostbarste Gut, das Menschen und Wölfe haben, wenn es auch immer nur geliehen ist. So wurde es beschlossen: die Wölfe beschützten das Vieh der Bauern vor fremdem Raubgetier und nährten sich ausschließlich vom Wild der weiten Wälder. Die Bauern verpflichteten sich, daß kein Mensch jemals einen aus der Sippe der Wulfen zu Welpenstein jagen werde. Und ein getreuer Jägersmann mußte für alle Zeiten in der Jagdhütte am Wolfsbrunnen leben. Wenn er starb, übernahm sein ältester Sohn seine Aufgabe. Jahr um Jahr, Generation um Generation, wurde dieser Vertrag eingehalten. Denn das Vermächtnis enthielt eine Weissagung der weißen Wölfin. Ihren Rat hatte Eisengrimm Wolfhart zu Welpenstein in jenen grauen Vorzeiten eingeholt, bevor er seine Klaue unter den Vertrag setzte. Die weiße Wölfin lebte im Reinhardswald, einem Buchenurwald in den waldreichen Hügeln Buchonias, den die Menschen bis heute nicht ganz durchdrungen haben. Zurückgezogen und still lebte sie hier in der tiefsten Abgeschiedenheit, und Eisengrimm mußte die ganze Nacht hindurch laufen, um bis zu ihr zu kommen. Erschöpft kam er schließlich im Morgengrauen bei der Weißen Wölfin an und legte ihr den Vorschlag des Schultheißen dar.

„Wölfe schließen keine Verträge mit Menschen!“

sprach die Weiße Wölfin.

„Wer sich mit Menschen einläßt, der wird zum Hund - sabbernd und schwanzwedelnd und kindisch.“

Doch Eisengrimm legte ihr auch die Vorteile dar, die das Wulfengeschlecht aus dieser Abmachung ziehen könnte. Die Weiße Wölfin bedachte alles wohl, und nach langem Schweigen erhob sie ihre Stimme.

„So höre, was ich zu sagen habe. Es führt für die Wölfe niemals zu einem guten Ende, lassen sie sich mit Menschen ein. Ein mächtiger Zauber muß deshalb gewoben werden, um die Wölfe zu schützen. Unterzeichne den Vertrag, doch rate deinem Menschen, sich für alle Zeiten daran zu halten! Denn wird auch nur ein Wolf aus deiner Sippe in ferner Zukunft von einem Menschen aus seiner Sippe gejagt und getötet, wird ein gewaltiges Heulen die Wälder erfüllen und das Wasser des Wolfsbrunnen kein Glück mehr bringen.“

Eisengrimm schloß die Weissagung tief in sein Herz und machte sich auf den langen Weg zurück zum Wulfenborn. Der Vertrag wurde rechtskräftig, und für viele Generationen von Wölfen und Menschen blieb er es. Inzwischen wußte das Dorf des Schultheißen schon, daß es Suebada hieß, doch an den Schultheißen konnte sich niemand mehr erinnern - es war einfach zu lange her. Die Menschen im Dorf erzählten sich die uralte Sage vom Wulfenborn, und daß es einst in grauer Vorzeit einen Vertrag mit den Wölfen gegeben habe. Niemand sah sich aber gezwungen, etwas gegen die Wölfe zu unternehmen, denn friedlich kamen sie abends zum Brunnen und tranken, und die Bauern konnten seit altersher ihr Vieh auf die Weide und in den Wald treiben, ohne daß auch nur eines von den Wölfen gerissen worden wäre. Am Ort des Wolfsbrunnen wurde wieder eine Jagdhütte erbaut, denn der Wald war noch immer voller Wild. Wer in der Hütte lebte, hütete sich stets davor, einen Wolf zu töten. Von Generation zu Generation gab ein kluger Jägersmann dies an den nächsten weiter. Dann aber - es war gerade Herbst, und die jungen Heißsporne aus gutem Hause ritten mit lautem Halali durch die Wälder zur Jagd – da erlegte einer von ihnen einen greisen Wolf, einen uralten grauen Wolf mit gelben Augen. Er hatte sich zum Brunnen gebeugt, um zu trinken, doch mit dem ersten Tropfen Wasser, der seine Kehle benetzte, krachte der Schuß. Tot sank der alte Wolf nieder, und ein gewaltiges Heulen erfüllte die Wälder. Am nächsten Abend erschien kein einziger Wolf am Brunnen, und auch am nächsten nicht und am übernächsten. Die Wölfe der Wulfensippe waren verschwunden, doch neben dem Wolfsbrunnen war von Geisterhand ein Grab aus Steinen aufgetürmt. Dafür kamen marodierende Soldaten einhergeritten, brandschatzten die Dörfer, verschleppten Frauen und Kinder und töteten die Männer. Dreißig Jahre lang kehrte kein Frieden mehr ein, und auch die Jagdhütte am Wolfsbrunnen brannte bis auf die Grundmauern nieder. Viele Generationen Menschen waren nötig, um die waldigen Hügel über der Werra wieder zu besiedeln, die Äcker wieder herzurichten, die Ställe für das Vieh zu bauen. Doch abends, sobald die Dämmerung hereinbrach, wurde es unheimlich. Aus dem dunkelnden Hochwald blickten gelbe Augen, im Abendnebel strichen graue Schatten umher. Abend für Abend wurde ein gespenstisches Heulen hörbar, das an- und abschwoll und über die Hügel wehte. Niemand wußte mehr etwas von der alten Sage um das Vermächtnis zwischen den Wölfen und den Menschen. Ruhelos zogen die Seelen der Wölfe von einst um den Brunnen, doch keiner kam, um daraus zu trinken. Da gab es im Dorf ein Mädchen, Klara geheißen. Sie war eine Waise, zudem an einem Sonntag geboren und von reinem Herzen. Klara wuchs bei ihrer Tante auf, die ein hartes Regiment über ihre Familie führte. Gerecht ging es zu, aber mit wenig Liebe im Herzen. Und so flüchtete Klara, wann immer ihre Zeit es erlaubte, zum Grab der Mutter draußen im Wald. Sie umsorgte den Rosmarinstrauch, der darauf wuchs, und führte lange stille Gespräche mit ihrer toten Mutter. Auf ihrem Weg vom Dorf zum Grab kam sie an einem alten Brunnen vorbei, von dem die Menschen sagten, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehe. Wölfe trieben hier ihr Unwesen. Klara aber fürchtete sich nicht und pflegte auch das Grab nahe beim Brunnen. Sie wußte zwar nicht, wer dort begraben lag, doch sie dachte bei sich, ein paar frische Blumen hier und da können doch nichts schaden. Aus dem Mädchen Klara wurde eine junge Frau, die bald einen guten Mann fand und im Laufe der Jahre sieben Kindern das Leben schenkte. Die Familie lebte in einer Hütte nahe beim Wolfsbrunnen. Denn Wolfsbrunnen hieß der Born noch immer, wenn auch niemand mehr etwas von der alten Sage wußte. Allein das unirdische Geheul in den Abendstunden gab den Menschen des Dorfes ein, den Ort so zu nennen. Kaum aber war die Familie von Klara hier eingezogen, da verstummte das Heulen. Und solange sie lebten, und auch noch ihre Nachkommen, solange ließ sich das Heulen nicht mehr hören. Dann kam die Zeit, da alle Rechtschaffenheit, Treue und Wahrhaftigkeit, die Klaras Familie zu eigen war, im Zuge der Jahrhunderte verschwand. Wieder zogen Kriege über das Land, Verwundete und Flüchtlinge kamen des Wegs, und die Wölfe heulten. Die Zeiten wurden nicht ruhiger, alle Beschaulichkeit war dahin, und heute: wer würde heute glauben, daß ein Vertrag zwischen Wölfen und Menschen Bestand haben könnte! Doch beide sind noch immer da: Menschen wie einst der furchtlose Schultheiß oder die brave Klara gibt es immer wieder einmal, und auch die Wölfe warten geduldig auf den Tag, an dem der zweite Teil der Weissagung eintreffen wird. Sobald ein Mensch das Vermächtnis erneuert und den Wölfen freies Geleit durch die waldigen Hügel von Buchonia zusichert, wird der Vertrag wieder gültig. Von jenem Tag an, von dem die Wölfe träumen, werden Menschen und Wölfe gemeinsam aus dem Wolfsbrunnen trinken, aus dem so viel mehr zu schöpfen ist als nur Wasser. Bis es soweit ist, solange aber müssen sie in Mondnächten heulen...

Marieta Hiller

Dieses Märchen habe ich meinem alten Lateinlehrer Wolfram Becher gewidmet, der sich immer zur Tafel umdrehen mußte, wenn er uns getadelt hat. Sonst hätten wir gesehen, wie er heimlich drüber lachen mußte...

Das Märchen von der Weißen Wölfin erzählte Kobold Kieselbart erstmalig und exklusiv für alle großen und kleinen Teilnehmer, die bei den Vollmondmärchen am 29. Oktober 2012 dabeiwaren...

Von einer ganz besonderen Holzschnitzerei  erzählt diese Geschichte: auf der Mauer von Schloß Auerbach hoch über dem Tal der Bergstraße wuchs vor ungezählten Jahrhunderten ein Bäumchen, eine Waldkiefer. Klein war es von Wuchs, denn die Mauersteine waren karg. Doch als das Bäumchen sieben mal siebzig Jahre alt war, da kam ein Holzfäller und schlug es ab. Glücklicherweise geriet das Bäumchen dann als gutes Schnitzholz in die Werkstatt eines Holzschnitzmeisters. Der fertigte aus seinem Holz eine Wiege für das Herrscherpaar auf dem Schloß, denn ihnen sollte bald ein Sprößling geboren werden. Der Junge wuchs heran, wurde ein prachtvoller Ritter und zog hinaus in die weite Welt. Dabei kam er auch in die hohen Berge, wo die Waldkiefern krumm und gebückt wuchsen. Von einer nahm er als Andenken einen Kiefernzapfen mit. Doch als er nach Hause kam, da vergaß er ihn vor Freude über das Wiedersehen mit seinen Eltern. Erst viele viele Jahre später, als aus dem jungen Ritter ein alter Mann geworden war, der eines Tages tot aus dem Schloß getragen wurde, erst da kam der Kiefernzapfen wieder ans Tageslicht. Mit dem Kehricht warf ihn die Magd hinaus über die Mauer. Doch auf der Mauer - was glaubt ihr, was dort liegenblieb? Ein Sämling aus dem uralten Kiefernzapfen! Und als es auf ihn regnete, da streckte er ein Beinchen aus und faßte Fuß im steinigen Mauerwerk. Er wuchs heran, erst war es ein Keimling, dann ein winziges Pflänzchen, bald ein Bäumchen. Das Bäumchen blieb klein, krumm und gebückt, denn es war ja eine Waldkiefer aus dem Hochgebirge, und die Mauersteine noch immer karg. Es vergingen wieder sieben mal siebzig Jahre, und es kam ein Holzfäller, und ein Holzschnitzmeister fertigte eine Wiege, und bald lag in ihr ein junger Prinz, der später in die weite Welt hinauszog - ihr könnt euch sicher denken, wie es weiterging. Seit vielen vielen Jahrhunderten geht das nun schon so, und auch heute wächst ein Kiefernbäumchen auf der Schloßmauer, das ist schon 300 Jahre alt. Besucht es einmal und staunt, denn in zwei Jahrhunderten wird es nicht mehr dort sein...

Das ist das Märchen von der Waldkiefer auf dem Auerbacher Schloß. Marieta Hiller

 - in Märchenbildern muß es stets ein Fliegenpilz sein, obwohl er gar nicht am liebsten im Wald lebt, sondern unter lichten Birken am Feldrain - der Fliegenpilz also kennt sie alle, die Märchenwesen.

Denn, was kaum jemand weiß: er ist nicht nur für Hexen wichtig, die aus ihm ihre Flugsalbe herstellen, er ist auch das allgegenwärtige Waldtelefon der Kobolde, Gnome, Trolle und Elfen! Denn in der Tat sind alle Pilze des tiefen Waldes unter der Erde miteinander verbunden - über ein Land so groß wie ein Königreich!

Die eine Schnecke, die nicht so schnell unterwegs ist und die andere, die eher langsam vorwärtskommt, diese beiden Häuschenschnecken aus dem Zauberwald, wissen leider nichts vom Waldtelefon: Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr sind die beiden unterwegs zu ihrem Kafffeeklatsch, immer Dienstag nachmittags. Mal bei der einen mal bei der anderen. Kaum ist ein Kaffeeklatsch vorbei, so muß sich erst die eine, die zu Gast bei der anderen war, auf den Heimweg machen, um rechtzeitig mit Kuchenbacken und Kaffeekochen fertig zu sein, wenn die andere ankommt! Und die muß gleich drauf, sobald sie den Abwasch erledigt hat, ihre Siebensachen packen für den langen Weg am anderen Ende des Zauberwaldes, wo die eine wohnt. Nur gut, daß sie ihr Häuschen dabei hat, so hat sie wenigstens alles Nötige stets dabei!

Wüßten die beiden vom Waldtelefon, so wäre ihr dienstäglicher Kaffeeklatsch wohl um einiges unbeschwerlicher. Doch das Beisammensitzen bei Kaffee und Kuchen kann wohl auch im Zauberwald kein Waldtelefon der ganzen Welt ersetzen! Denn hier legt man noch viel Wert auf solch persönliche Besuche. Doch ähnlich wie mit der Hillebille der Menschenwelt, mit der seit alten Zeiten die Köhler im tiefen Wald von Hügel zu Hügel ihre Nachrichten weitergaben, so tun dies noch heute die geheimen Wesen.

Vom einen Ende des Zauberwaldes, wo die nicht ganz so schnelle Schnecke wohnt, bis zum anderen Ende, so weit entfernt wie ein Dienstag vom nächsten, können über das Pilztelefon wichtige Dinge berichtet werden. So stehen nicht nur die Kobolde im Felsenmeer in ständigem Kontakt miteinander, nein, sie können sogar über große Entfernungen mit den Boggels des Kellerwaldes oder den Harzhexen kommunizieren!

Und nicht nur das Pilztelefon dient ihrer Verbindung: nein, auch die Buchen des uralten Waldlandes Buchonia sprechen mit den geheimen Wesen. Ihr könnt es selbst herausfinden: legt einmal im April euer Ohr an einen Buchenstamm, so werdet ihr es rauschen hören! Natürlich könnt ihr Menschen nicht verstehen, was die Buchen berichten - aber das wäre ja auch noch schöner! Was eigentlich eine Hillebille ist, wollt ihr noch wissen? Sie ist ein einfaches Schlaginstrument aus klingenden Hölzern, die mitten im Wald aufgehängt werden. Der Köhler, oder auch der Schweinehirt, der arme Taglöhner und selbst der Räuber nutzten sie, und weit klangen die weichen Töne über die Hügel von?Harz, Odenwald oder Kellerwald, der gar seinen Namen von der Köhlerei bekam.

Marieta Hiller

Wollen wir liebe Märchenfreunde einen Ausflug ins Märchenland unternehmen, auf der Suche nach dem Glück?

So folgt mir in ein beschauliches Dorf, gleich unterhalb eines hohen herrschaftlichen Schlosses, am Rande eines tiefen undurchdringlichen Waldes. Im Dorf lebt ein Schuster, der sich redlich von seiner Hände Arbeit ernährt. Eines Tages fertigt er ein Paar wunderschön gearbeiteter geknöpfter Stiefel aus allerfeinstem Ziegenleder für die Dame des Schlosses, und erhält zum Dank ein Säckchen voll glänzender Dukaten.

Wäre er nun ein wahrer Unternehmer - und wären wir, liebe Märchenfreunde, nicht gerade mitten in einem Märchen - so würde er sich damit einen ordentlichen Vorrat an gutem Leder, neuem Werkzeug und vielleicht auch ein neues Licht für seine Werkstatt anschaffen.

Doch dort wo wir sind, ist es anders: unser Schuster, nennen wir ihn Hans, zieht lieber hinaus in die Welt, sein Glück zu suchen. Schon begegnet er auf seiner Wanderung durch den finsteren undurchdringlichen Wald einem merkwürdigen Gesellen, dem sicher nicht recht zu trauen ist. Doch gemeinsam erreicht man bald eine Waldschänke, hockt zusammen beim Bier, und versteht sich prächtig. Und das, obwohl hier schwarze Köhler mit ihrem Bauchladen voller Pech verkehren, ja dort hinten in der dunkelsten Ecke können wir sogar einen echten Räuber mit einem Sack voller Beute entdecken, die er sich nachher vom Spelunkenwirt in Scherflein teilen lassen will!

Wer würde sich da nun wundern, würde der merkwürdige Geselle unserem Hans drei Wünsche zur freien Verfügung überlassen? Hans jedenfalls wundert sich nicht. Er prostet dem merkwürdigen Gesellen fröhlich zu und läßt seine Dukaten springen. Uns wiederum würde es nun nicht wundern, sollte der merkwürdige Geselle genauso heimlich verschwinden, wie er erschienen war. Weg ist er und läßt Hans mit seinen drei Wünschen zurück!

Wäre Hans nun ein Vollblutökonom, ginge er vielleicht so vor: mit dem ersten Wunsch würde er sich eine neue Hose wünschen, denn die seine ist schon recht fadenscheinig und oft geflickt. Und mit einer neuen Hose erringt man gleich mehr Ansehen - Kleider machen schließlich Leute.
Mit dem zweiten Wunsch würde Hans das Ergebnis des ersten durch eine gute deftige Mahlzeit unterfüttern, denn das kommt der Erscheinung stets zu Paß.
Den dritten Wunsch aber würde Hans - wäre er ein gesunder Unternehmer wohlgemerkt - besonders geschickt einsetzen und sich damit drei neue Wünsche wünschen. Das wäre nicht so unverschämt, als würde er sich gleich mit dem ersten Wunsch unendlich viele Wünsche wünschen, es wirkte sozusagen bescheidener und auch seriöser, erhielte zugleich auch immer neuen Nervenkitzel.

Aber ach: unser Hans ist betriebswirtschaftlich völlig unbeschlagen, und während er noch nachgrübelt, was er sich als Drittes wünschen soll, kommt die Prinzessin vom Schloß auf einem stolzen Rappen einhergeritten, begleitet nur von ihren wunderschön gearbeiteten geknöpften Stiefeln aus allerfeinstem Ziegenleder und von ihrer vertrautesten Zofe. Bestimmt soll sie eigentlich nicht durch den finsteren undurchdringlichen Wald reiten, aber auch bei Königs müssen ja die Eltern nicht immer wissen, was ihre Sprößlinge so treiben. Und weil der Prinzessin immer schrecklich langweilig ist und auf der Suche nach einem Abenteuer (was Königs ebenfalls nicht wissen dürfen, versteht sich), so entdeckt ihr suchendes Auge sogleich unseren Hans in seiner guten Hose und seiner wohlgenährten Erscheinung.

„Der könnte doch sicher ein Abenteuer wert sein!“ denkt sich die Prinzessin, zügelt ihren Rappen und springt herab. Was folgt, lassen wir hinter märchenhaftem Nebel verborgen sein. Kurz und gut: die Prinzessin hat ihren Kick in der sonstigen Eintönigkeit des Prinzessinnendaseins, Hans weiß nicht wie ihm geschieht, aber da war ja noch der Wunsch, der dritte. Der schwirrt ihm jetzt im Kopf herum, so sehr er ihn auch zurückzuhalten versucht. Und schwupps: geradeso schnell wie die drei Wünsche in seine Welt hereingekommen waren, so sind sie auch schon wieder entschwunden - alle drei.

Was Hans sich als drittes - und eigentlich wollte er es doch gar nicht! - gewünscht hat, wird uns auf immer verborgen bleiben. Wir sehen ihn nur in all seinem Elend auf einer Bank unter dem Haselstrauch sitzen. Die Prinzessin ist hochnäsig von dannen geritten, der Bauch ist wieder leer und seine Beine stecken in einer alten geflickten Hose. Die Dukaten sind längst in der Spelunke verpraßt (wobei ihm besagter Räuber und ja, auch der Köhler, der schwarze Mann, tüchtig halfen), und der Weg nach Hause liegt nun lang und beschwerlich vor ihm. Trübsinnig erhebt sich Hans und setzt einen schweren Fuß vor den anderen. Doch wir wären schlechte Märchenerzähler, würden wir ihn so trübsinnig seines Wegs ziehen lassen.

Auch wir blicken ja von außen in die Märchenwelt hinein, wobei wir aber hoffen, daß unser „von außen“ ein anderes „von außen“ ist als dasjenige, aus dem jener merkwürdige Geselle mit seinen drei Wünschen erschienen war. Der nämlich ist der Vertreter der dunklen Seite, wir aber bringen ein Märchen stets zu einem glücklichen Ende, so wie es sich für rechtschaffene Märchen gehört. Und so wird unserem Hans mit jedem Schritt, den er aus dem finsteren undurchdringlichen Wald hinaus und der Heimat entgegen wandert, das Herz leichter. Als er sein Dorf erblickt, da jauchzt er und springt in langen Sätzen hinab zu seiner ärmlichen Hütte. Die Sonnenstrahlen im Holunderbaum gleich neben dem Fenster lassen ihn die Prinzessin vergessen, lassen Hunger und Durst vergessen, und auch die drei Wünsche vergißt er sowie das verpraßte Säcklein Dukaten. Und so lebt er glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage. Ein Paar Knopfstiefel für das herrschaftliche Schloß aber hat er nie mehr geschustert, denn mit Wunschökonomie und Glücksstatistik will er sich nicht herumquälen...

Marieta Hiller

 Anne Meyer: Botschafterin zwischen den Welten

Scheu sind sie, die Wesen vom Kleinen Volk - kaum, daß je eines Menschen Auge einmal eines erblickte! Verborgen in Baumhöhlen, unter Moospolstern, in Blütenkelchen und zwischen Grasbüscheln huschen sie herum: die Kobolde, Gnome, Trolle, Elfen und die sogenannten schrägen Gestalten, die sich nirgendwo zuordnen lassen, und die es dennoch gibt - mitten unter uns!

Aber ich kenne einen Ort, an dem man auch als Mensch - mit groben Ohren, schlechten Augen und noch schlechterem Atem - ungestört einen Blick auf sie werfen kann: im WeltWichtelWissen im Zauberheim von Anne Meyer aus München, genauer gesagt . Sie muß insgeheim eine vom Kleinen Volk sein, diese Anne Meyer. Hätte sie sonst so genaue Kenntnis erhalten, wie ein Blätterkobold aussieht, welche Kleidung Gnome bevorzugen, und daß Trolle recht gern mal einen über den Durst trinken?

Eine starke gute Fee muß wohl den lieben langen Tag um sie herumflattern, hat vielleicht mit ihrem Zauberstab wie einst beim Trollkind Goldzeh für lebenslanges Glück gesorgt! Denn so treffend beobachtet und perfekt dargestellt können ihre Figuren gar nicht anders entstanden sein - und täglich werden es mehr!

Kobolde und Gnome: Glücklsbringer aus der Zwischenwelt

Mein absoluter Liebling ist der Gnom „Nicht-von-diesem-Ufer“, aber den darf ich hier nicht vorstellen. Ich will euch lieber von Pixie, Lucy, dem Maiglöckchengeist und dem Gänseblümchengnom erzählen. Letzterer kann mit geübtem Auge gut beobachtet werden, wie er auf Waldlichtungen und Wiesen versonnen aber behutsam seine großen Füße hebt, um nur ja kein Gänseblümchen zu zerquetschen. Etwas unglücklich sieht der Maiglöckchengeist noch aus, man weiß nicht was ihn bedrückt, denn er gehört nicht zur gesprächigen Sorte. Pixie ist da schon ein anderes Kaliber: fröhlich kichernd und stets für einen Schabernack gut!

Apropos Schabernack: dafür sind - das ist beim Kleinen Volk nicht anders als bei den Menschen - die Jungwesen zuständig. Kleine Kobolde wie Sam, der Sonnenschein, etwas ältere Kobolde wie Gwiefel, der sich insbesondere während der Rauhnächte seinen Spaß mit den Menschen erlaubt; oder Struwuzel mit seiner magischen Zauberkette, die jeden Unhold blendet und Struwuzel allergrößtes Vergnügen bereitet; Pix und Trix die Wummelkinder, die gleichzeitig miteinander kuscheln und raufen können; harmlose Wesen wie der Grasgnom Hink, der einen Eimer voll frischer Zauberfarbe gefunden hat und damit nun die ganze Welt glücklich anstreicht oder das Elfenkind Lucy, das beim Spielen schon mal zuviel Elfenstaub herumwirbelt, so daß die Menschen vor Glück gar nicht mehr aus noch ein wissen...

Man sieht schon: wo Menschen mit der Zauberwelt in Kontakt kommen, gerät es meist zum Guten. Glück weht herüber in unsere betriebsame Welt, und wären nicht die Elfen mitten unter uns, wäre unser technokratisches Zeitalter überhaupt nicht zu ertragen!

Meist jedoch sind die Wesen vom Kleinen Volk zurückhaltend, unaufdringlich und kaum spürbar.

Die Schlurfbrüder etwa, zwei ältere Kobolde mit weißen Haarbüscheln unter ihren traditionellen roten Mützen (längst nicht alle vom Kleinen Volk kleiden sich heute noch so, wie sie einst vor langer langer Zeit in den Märchen beschrieben wurden!) unter ihren traditionellen roten Mützen also, sind die Schlurfbrüder Freunde der Langsamkeit. Sie machen alles in Zeitlupe nach Schneckenart, nicht einmal die scheuesten Wesen fürchten sich vor ihnen. Unter den Menschen wird wohl nicht ein einziger sein, der die Schlurfbrüder in all seiner Hektik wahrnehmen könnte. Dies gilt auch für den Blätterkobold Hitsch, der gemütlich mit Eichhörnchen zusammen in Nußbäumen wohnt und im Sommer auch schon einmal auf saftigen Wiesen zu finden ist - wenn man ihn denn zu finden versteht! Auch Spatz, wie Hitsch ein Blätterkobold, ist perfekt getarnt und versteht sich sehr gut mit den heimischen Amseln, mit denen er lange philosophische Gespräche führt, denen ein Mensch sowieso nicht folgen könnte. In alten Spechthöhlen und hohlen Bäume wäre hin und wieder der Rindenwicht zu erspähen, ein Baumtroll. Doch wie bereits gesagt: mit Menschenaugen fast unmöglich. Pfeilschnell durch die Lüfte fliegt der Graugnom, der sich gelegentlich in einen Vogel verwandelt um schneller unterwegs sein zu können. Das Vogelmenschwesen dagegen steht meist nachdenklich verschreckt hinter einem Baum, wo es nur von dem frechen Wurm ausgelacht wird. Auch einen schrägen Vogel gibt es beim Kleinen Volk, und er trägt ein Vogelnest auf dem Kopf, aus dem gerade eben sogar ein neuer schräger Vogel ausschlüpft - habt ihr es gesehn? Ach nein, ihr seht ihn ja nicht!

Waldschrate: besser man trifft nicht mit ihnen zusammen...

Und damit kommen wir zu den gefährlicheren Wesen: wagt es nicht, auf eurem Weg durch den Zauberwald auf den Verwunschenen Grasbüschel zu treten: das würde er sehr persönlich nehmen!

Zu den bedrohlichen Wesen gehören zweifellos auch die Waldschrate. Erkennen kann man sie - so man es denn kann - daran, daß sie unergründlich und unberechenbar, undurchschaubar und sehr wechselhaft sind. Gerade noch guter Kumpel, haben sie im nächsten Moment ein listiges Funkeln in den Augen, ein fieses Grinsen im Gesicht. Sie haben es faustdick hinter ihren spitzen Ohren. Ansonsten lassen sie sich nur schwer von den Kobolden und Gnomen unterscheiden, denn auch die Waldschrate haben meist vier Finger und Zehen. Das kommt daher, daß sie (wie die Kobolde) nicht arbeiten und sich unsichtbar machen können. Dadurch hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein Finger zurückgebildet, und Hände und Füße fallen sehr groß aus. Waldschrate können sich nicht nur unsichtbar machen - was es für Menschen zugegebenermaßen noch schwieriger macht, einen zu erspähen - , sie können nach Belieben ihre Gestalt verändern, bevorzugt in verschiedene Tiergestalten. Aber genauso können sie als Mensch von betörender Schönheit auftauchen, ja es wurde sogar schon beobachtet, daß sich ihre Körper im Licht halb auflösen.

Insgesamt sind Menschen aber gut beraten, wenn sie sich gut mit ihnen stellen, falls sie tatsächlich mal bei einer Waldwanderung einem in die Quere kommen sollten. Kein Waldschrat läßt sich mit den Menschen ein, geschweige daß er sich einfangen ließe, was auch nicht anzuraten ist. Waldschrate sind schon seit Urzeiten ständige Bewohner in den tiefen Wäldern Europas und umsorgen hauptsächlich die Rehe, aber auch andere Tiere. Die Existenz der Menschen ignorieren sie schlichtweg, weil sie die nicht leiden können. Irgendwann in grauer Vorzeit muß ein Waldschrat wohl schlechte Erfahrungen mit unseren Vorfahren gemacht haben. Vorsicht ist geboten, wenn man bei einem Waldspaziergang plötzlich aus dem Verborgenen ein Schnuppern und Schnüffeln hört: das ist dann nicht der böse Wolf, sondern Mieswurz, ein Waldschrat aus der Braunling-Famillie, ein kleinwüchsiger Erdling, der sich durch besonders guten Geruchssinn und feines Gehör auszeichnet. Und wenn er Menschen erschnuppert hat, dann weiß es kurz darauf der ganze Zauberwald.

Elfen: Lichtgestalten allüberall

Nicht nur halb im Licht aufgelöst, sondern gänzlich unsichtbar können auch Elfen sein, doch wenn ein Mensch eine Elfe ruft, dann ist sie sofort bei ihm, auch wenn er es nicht wahrnehmen kann.

Elfen begleiten uns Menschen auf all unseren Wegen, sie schützen uns, bringen uns Glück und sorgen für Wohlbefinden und Behaglichkeit. Nur Ärger, Zorn, Boshaftigkeit und Arglist können sie unter keinen Umständen ertragen, denn dann versiegt ihr Vorrat an Elfenstaub. Und was ist eine Elfe ohne Elfenstaub! Es soll bereits vorgekommen sein, daß eine solche Elfe vor Traurigkeit zu einer jämmerlichen Wasserpfütze zerronnen ist, und so etwas kann nicht wieder umgekehrt werden, nicht mit allem Elfenstaub auf der ganzen Welt.

Doch meist spüren es die Menschen, daß Elfen bei ihnen sind. Besonders klar läßt sich ihre Anwesenheit in der Elfenstadt Hafnarfjördur auf Island, wo die Elfen ja ursprünglich herkommen, wahrnehmen. Dort leben die Elfen sogar ganz ungeniert mitten in einer Menschenstadt! 

Bei besonderen Lichtverhältnissen können Elfen bis zu 1 Meter groß wirken, doch eigentlich sind sie eher klein. Es gibt Lichtelfen, Bergelfen, Blumenelfen, Zauberpflanzenelfen, Luftelfen und Schmetterlingswesen. Ihre Erscheinung ist von schillernder, durchscheinender, flureszierender und geheimnisvoller Lichtheit geprägt, voll Reinheit und fremdartiger Schönheit. Sie sind überall: die Wald-, Wiesen- und Heilkräuter sind beseelt und bewohnt von Geistwesen, unter jedem Blatt kann sich eine Elfe verbergen, in jedem Baum kann ein Wesen wohnen. Drum müssen wir Menschen stets achtsam mit unserer Mitwelt umgehen, damit die sensiblen Geistwesen nicht verscheucht werden.

Wer sich noch an Tinker Bell aus Peter Pan erinnert, der weiß jedoch, daß es auch schusselige, freche, schnoddrige und jähzornige Elfen gibt, zudem huschen neben den betörenden Schönheiten auch sehr Dünne, Kantige, Knochige herum oder sehr Vollbusige. Es lohnt sich bestimmt, die Augen offen zu halten, denn Elfen sind meist leicht bekleidet, mit einem roten Fingerhut als Handschuh oder Kopfbedeckung etwa. Bei manchen Elfen spielt die Kleidung sogar eine entscheidende Rolle: Hauselfen wie Dobbie sind darauf angewiesen, daß ihnen von ihrem Herrn ein Kleidungsstück geschenkt wird, damit sie frei werden. In Dobbies Fall war das eine Socke...

Wie es sich leibt und lebt beim Kleinen Volk

Nun wissen wir schon mehr über die Zauberwelt des Kleinen Volkes. Doch bei Anne Meyer steht noch viel mehr über sie zu lesen: wie sie aufwachsen, wie sie miteinander leben und feiern, wo sie herkommen und hinwollen, und was sie nicht mögen.

Kobolde etwa kochen äußerst ungern selber, heben aber gerne mal einen. Wo sie einen guten Schnaps und etwas Käse und Brot aufgetischt bekommen, dort müssen die Menschen damit rechnen, daß sich der ein oder andere Kobold mit an die Tafel setzt und kräftig mitfuttert. Mit ein bißchen Glück ist es vielleicht sogar ein Glückskobold!

Das krasse Gegenteil sind die Elfen, wohingegen es die Trolle noch viel ärger treiben als die Kobolde. Niemand - weder einer der Menschen noch einer vom Kleinen Volk - hat jemals davon gehört, daß eine Elfe irgendeine Form von Nahrung aufgenommen hat. Elfen sind Geistwesen und brauchen deswegen keine materiellen Speisen, nur nach großen Anstrengungen - etwa wenn eine Extraportion Elfenstaub verstreut werden mußte - saugen sie ein wenig Morgentau von einem Blatt auf.

Die ruhigen behäbigen Gnome züchten Ziegen, trinken deren Milch und essen ihr Fleisch. Auch bauen sie besondere Pilze an, sowohl zum Verzehr als auch zur Berauschung, wodurch sie etwas eigenbrötlerisch wirken können. Sie backen auch Kekse. Vom Gnom Habnix wissen wir, daß wohl der letzte Blaubeerwein schlecht war, so daß Habnix völlig von Trübsinn begnomt ward. Dabei sah er zwar keine Mäuse, jedoch zwei Schnecken in seiner Tasse sitzen! Da brauchte er flugs die Hilfe vom Kobold Schneckenzähmer. Der nämlich nimmt die Schnecken so ins Gebet, so daß sie in keines Menschen Garten mehr gehen um dort Unheil anzurichten. Das funktioniert sogar in Tassen...

Asketisch erscheinen dagegen die Blätterkobolde: in freier Wildbahn Vegetarier und große Beerenfreunde, mögen sie sehr gern auch Pilze, Wurzeln und die verschiedensten Pflanzen auf ihrem Speiseplan.

Trolle wiederum, in ihrer ursprünglichen Heimat Norwegen als hinterlistige, gemeine Spezies verschrien, von buckliger, gedrungener Gestalt, haarig, dunkel und äußerst grobschlächtig, haben auf ihrer langen Wanderung in südlichere Gefilde eine Wandlung durchgemacht, die nicht unbedingt zum Schlechteren geführt hat: einige nämlich haben sich in Bayern angesiedelt und sich der dortigen Menschenwelt angepaßt. Sie haben jetzt weniger Haare, wenn auch, wie in Bayern auch oft noch bei den Menschen, genug Wolle überall hervorblitzt. Sie halten sich aufrecht und dies spiegelt sich auch in ihrem Charakter wider. Nur eines hat sich nicht geändert: Trolle haben fünf Finger, manchmal sogar sechs oder sieben an einer Hand und ebensoviele Zehen am Fuß! Die bayerischen Trolle sind heutzutage den landestypischen Gepflogenheiten voll und ganz angepaßt: aus einstmals hinterlistigen, finsteren Gesellen, die man tunlichst gemieden hat, sind lebenslustige, großherzige und gutmütige Kerle geworden. Sie genießen das Leben in vollen Zügen, aber leider mit einem großen Laster: sie sind dem Alkohol in jeglicher Form förmlich verfallen - was ja in Bayern nun nicht so schlimm ist, denn dort spricht man nicht von einem Laster, sondern von einem Recht auf Grundnahrungsmittel. Trolle leben in großen Gruppen und nehmen den geringsten Grund zum Anlaß für exzessive, ausschweifende Feiern. Mit Ebereschenschnaps, diversem Hopfengebräu, Honigwein und was sonst noch Alkohol in flüssiger Form enthält, wird gezecht, daß es nur so kracht. Dazu bevorzugen sie deftige Speisen und deshalb wird täglich reichhaltig gekocht und anschließend alles ratzeputz aufgegessen. So sind die bayrischen Trolle heutzutage den ganzen Tag damit beschäftigt, Nahrungsmittel zu beschaffen, haltbar zu machen und zu kochen. Die restliche Zeit wird in geselligen Runden verbracht, wo man gerne mal raucht und sich über die Dinge des Troll-Alltags austauscht.

Der Alltag beim Kleinen Volk: nicht viel anders als in der Menschenwelt...

Der Alltag von Kobolden, Gnomen und Trollen gestaltet sich weitgehend ähnlich anstrengend wie der von uns Menschen. Da müssen kleine Kobolde, Gnome und Trolle behütet, erzogen und auch mal getadelt werden, sei es das Trollbaby in der Muschel, das ganz friedlich an der Flasche nuckelt und sich danach zum Schlafen zusammenrollt; sei es das Nesthäkchen Goldzeh, das als Neugeborenes von einem Elfen-Zauberstab berührt wurde und seither vom Glück geradezu verfolgt wird; sei es das Findelkind, ein ausgesetztes (ja, so etwas gibt es sogar beim Kleinen Volk!) und gefundenes Trollmädchen; oder die beiden Erdlinge, die noch sehr klein sind und erst ab und zu aus der Erde dürfen, denn sie brauchen noch viel Erdwärme.

Damit die Kobold-, Gnomen- und Trollmütter hin und wieder eine Verschnaufpause genießen können, dafür hat sich Alice Rot, die voll emanzipierte Powertrollfrau stark gemacht. Sie hat den Männern ordentlich Beine gemacht und ihnen gezeigt, wie gekehrt und gebügelt, gekocht und geputzt, eingekauft und gewaschen wird. Seither kann Oma Elli mit den sehr abstehenden Ohren ihre freie Zeit gut nutzen: sie ist eine Weinkennerin geworden, bäckt Brot und hat Hessisch sprechen (babbele) gelernt. Auch Gertrud, die einmal für ein ganzes Jahr ihren Enkel verlegt hatte, fand ihn schließlich wieder, und es war in der Zwischenzeit gut für ihn gesorgt worden. Natürlich ist das Gertrud immer noch ein bißchen peinlich, denn es war das eine oder andere Fichtennadel-Likörchen im Spiel dabei. Also sprechen wir nicht mehr davon. Oma Gundl nimmt ihr Enkelkind aber noch immer gern mit zum Beerenpflücken, wo die beiden viel Spaß haben. Aber sie MUSS es halt nicht mehr Tag für Tag tun. Die weise Alte - man kann nicht so genau sagen, ob sie eine Trollin, eine Koboldin oder eine Gnomin ist, auf jeden Fall ist sie sehr alt und sehr weise - denkt sich, ach wenn wir es früher schon so gemütlich gehabt hätten...

Die Männer nehmen ihre neugelernten Aufgaben sehr ernst. Kein Wunder: täten sie es nicht, würde Alice Rot schon für Unterhaltung sorgen!

Wenn ein Wesen vom Kleinen Volk mal nicht zur Ruhe kommt (ja, selbst in der Zauberwelt zeigen sich von Zeit zu Zeit Streßsymptome!) oder nicht einschlafen kann, dann springt der Flötenspieler ein. Gnome wie er haben die Gabe, sich in alles Lebendige und alle Materie einfühlen zu können, in Fauna und Flora, in das Wesen des Feenreiches und in den ganzen Kosmos. Der Flötenspieler setzt sich dann zu dem Ruhelosen und läßt alte Melodien aus verträumten Welten hören. Nutzt selbst das nichts, dann kommt der Vetter 2. Grades zum Einsatz: wer länger als fünf Minuten seinem einschmeichelnden Spiel lauscht, fällt in einen langen langen Schlaf.

Wegen dieser Einfühlungsgabe tun Gnome auch dem Menschen gut, oftmals ohne daß es diesem bewußt wird. Schon seit ewigen Zeiten haben Gnome den Menschen geholfen.

Allerdings gibt es da auch den Breitmaulgnom Wasweisi: der doziert gerne über Gott und die Welt und ist ziemlich allein, denn jeder der ihn sieht macht kehrt und schleicht davon!

Während die Gnome ursprünglich aus Rußland und Polen stammen, wurden sie in jüngster Zeit vermehrt auch in Flandern gesichtet. Selbst bis in die Schweizer Berge haben sie sich inzwischen ausgebreitet, und auch im übrigen Alpenraum. Am wohlsten fühlen sie sich in Erdhöhlen.

Kobolde dagegen sind sehr unternehmungslustig und reisefreudig, so daß auch diese Gattung auf dem Vormarsch in neue Verbreitungsgebiete unterwegs ist. Sie halten sich überall da gerne auf, wo das Alte noch seinen Platz hat . Ein Haus, das kalt und steril eingerichtet ist, läßt sie bis aufs Mark erschaudern. Lesen Sie dazu bitte auch das Interview mit Kobold Kieselbart vom Felsenmeer!

Prinzipiell muß hier zwischen Hauskobolden und Blätterkobolden unterschieden werden. Blätterkobolde leben in der Natur und sind sehr scheu. Außerdem sind sie immer perfekt getarnt, was sie meist durch das Tragen eines Blätterkleides und eine blättrige Kopfbedeckung bewerkstelligen. Fängt sie der Mensch aber ein und hält sie als Hauskobolde in seiner Behausung, so werden sie dort auch heimisch und bleiben ein Koboldleben lang bei ihrem Herrn. Als Hauskobold will der Blätterkobold das gleiche zu sich nehmen wie sein Hausherr, das ist wichtig und zu beachten! Verbreitet sind Blätterkobolde wie Eichblatt, Hitsch, Fingerhütchen, Silberblatt und Spatz im Baltikum bis hinunter nach Tschechien und die Ukraine, aber auch in Neuseeland und Bayern.

Was mit einem Blätterkobold noch angehen mag, seine Domestizierung durch den Menschen, das kann für eine Elfe tödlich sein: keine Elfe läßt sich jemals einfangen, das wäre eine unverzeihliche Sünde. „Die Elfe kommt und setzt sich zu dir, wenn du sie brauchst und sie fliegt wieder weiter, wenn es an der Zeit ist. Wenn sie dich besucht ist es ein Geschenk, sie schenkt dir genau das, was du im Moment am dringensten benötigst. Stell dir deine Elfe vor und sie wird dir erscheinen!“ so erklärt es Anne Meyer. Elfen kamen einst es von Schweden, Finnland, Norwegen und Island und haben sich heutzutage über die ganze Welt bis hin nach Neuseeland ausgebreitet. Sie sind auch bei uns ganz stark im Kommen, denn jeder Mensch braucht eine Elfe; etwa Linette die Baumelfe, die schillernd wie Blätterwerk im Morgennebel bei Restmondlicht herumflattert. Oder die Elfe Frühlingswind und Frühlingszauber, Anina und Jelva, die Blütenelfen Rose, Pfingstrose und Wildröschen, Viola, Grüne Sterndolde und viele weitere, die Traumelfe und die bezaubernden Elfenkinder Lucy und Glückskind, Sunny und Sonnenhütchen - wer keine Elfe braucht, der lügt einfach!

Marieta Hiller

 

Interview mit Kobold Kieselbart, oberster Kobold im Felsenmeer

MH: Werter Herr Kieselbart, wie darf ich Sie ansprechen?

K: Mein vollständiger Name ist Kobold Kieselbart aus dem Barythenquarze und zu den Granodioriten. Es reicht aber Kieselbart, ihr Menschen könnt euch den Rest ja sowieso nicht behalten. Und meinen Vornamen: tja, den verrate ich niemals!

MH: Kieselbart also. Sie und Ihre Sippschaft leben im Felsenmeer im Odenwald. War das schon immer so?

K: Nein. Doch. Also es war so: ganz früher, als sich die Gebirge bildeten und die Meere überschwappten und die Dinosaurier sich allmählich in Drachen verwandelten,

MH: können Sie sich bitte etwas kürzer fassen? Wir haben nur sieben mal sieben Minuten Zeit!

K: also gut. Zu jener Zeit also, da lebten wir Kobolde draußen. Dann aber tauchten immer mehr Menschen auf, und sie bauten sich gemütliche warme Häuser, mit einem Dachboden, auf dem es trocken und kuschelig war. Und mit einer Küche, in der ein Herd stand, der niemals kalt wurde. Auf dem Herd aber, da stand den lieben langen Tag - und wenn wir Glück hatten, auch die ganze Nacht - ein Töpfchen mit süßem Brei, mit Milch oder Apfelkompott! Und so zogen wir Kobolde zu den Menschen, wohnten auf ihren Dachböden und schenkten ihnen Glück, Gesundheit und Freundschaft. Bald aber begannen die Menschen, ihre gemütlichen Bauernhäuser aufzugeben und in Städte zu ziehen, wo sie ihre Wohnungen wie Schachteln übereinander türmten. Kein warmer Dachboden mehr, kein Herd der nie kalt wurde - und: sie sperrten alle die Köstlichkeiten die wir Kobolde so lieben in einen Schrank mit Licht drin, den wir nicht aufbekamen. Das Schlimmste aber war, daß sich die Menschen elektrische Kobolde anschafften, die auf Knopfdruck einen Heidenlärm machen und Dinge verschwinden lassen.

Da sind wir Kobolde dann ausgezogen und nun leben wir wieder im Zauberwald, genauer gesagt im Felsenmeer.

MH: Lieber Kieselbart, ich danke dir für dieses Interview und hoffe, daß es unseren Lesern zu denken geben wird. Dir aber wünsche ich eine gute Heimreise ins Felsenmeer, und mir wünsche ich ein gemütliches Bauernhaus mit einem Herd, der niemals kalt wird.