„Komm, setze dich zu mir. Es ist ein schlimmer Abend heute. Aller Sommer ist tot. ... Der Herbst sickert durch alle Fugen, geängstigt keucht die Kerze, riesige Schatten flattern an den Wänden.“
So beginnt das Buch Rodenstein von Werner Bergengruen (1892-1964), der eine Zeit seines Lebens in Lindenfels verbrachte und Odenwälder Sagen - vor allem gruselige - sammelte. Der Rodensteiner und das Wilde Heer faszinierte ihn besonders. Wenn ein Krieg sich ankündigte, so hörte man früher in der Nacht, als die Stuben noch von Kien und Kerzenlicht erhellt wurden, das Wilde Heer vom Schnellerts durch den Haalhof ziehen. Heute ruht im Wald zwischen Nieder- und Oberkainsbach still die Ruine der Schnellertsburg, und auf dem Haalhof rasseln allenfalls Kühe mit Ketten.
Weiterlesen: Wenn Krieg vor der Tür steht, zieht im Odenwald das Wilde Heer...
Wie eine Kindheit und Jugend in einem Odenwalddorf früher aussah, liest sich amüsant in Ellen Schmids Büchlein „mit Blumenkranz und Petticoat“, erschienen im Wellhöfer Verlag Mannheim 2011, ISBN 978-3-939540-84-7. Geboren wurde Ellen Schmid 1943 in Brensbach, während auf Darmstadt ein Tieffliegerangriff stattfand. Spannend wie es begann ging ihr Leben weiter: „zu keiner Zeit“, so schreibt sie in ihrer Einleitung, „haben sich das Leben auf dem Lande und das äußere Erscheinungsbild der Dörfer so stark verändert wie in den Jahren nach 1945 bis Anfang der Siebziger.“
Weiterlesen: Ellen Schmid - ein Odenwälder Menschenleben für die Literatur
Zwölf Dörfer bilden die Gemeinde Lautertal, vier von ihnen liegen auch im Lautertal. Das Flüßchen selbst entspringt auf der Neunkircher Höhe auf 540m über NN, also 65 Meter unter dem höchsten Punkt der Höhe. Ihre Quelle wurde in Schmiedeeisen gefaßt und liegt in der Nähe des Hexensteines. Da die Quelle jedoch nicht (mehr) ganzjährig Wasser spendet, kann man auch das Sumpfgebiet etwas weiter unten in der Nähe der Allmeihütte als Lauterquellen bezeichnen.
Wie sah die Neunkircher Höhe und der Wald zwischen Gadernheim und Neunkirchen im Lauf der Jahrhunderte aus?
Die Neunkircher Höhe wird im Lorscher Kodex in der Markbeschreibung von Heppenheim aus dem Jahr 773 als Wintercasto bezeichnet: nach ihrem einstigen Namen Windherrenhöhe erhielt das Dorf Winterkasten seinen Namen. Der Höhenrücken bildet die Wasserscheide zwischen Lauter, Modau und Gersprenz.
Die Lauter: von der Quelle auf 540m Höhe bis zur Mündung bei Gernsheim am Rhein 31 Kilometer lang - lesen Sie dazu auch: Die Lauterquelle und Die Lauter: Naturidyll und Industriefluß in meinen Jahrbüchern: Das Durchblick-Jahrbuch: Spinnstubb 2.0, sie sind deshalb online nicht zu finden.
Feuerspindel schützt Fachwerk vor Feuer...
Wer in einem Fachwerkhaus lebt, fürchtet vieles: vor allem aber Feuer. Und so ritzte man Schutzzeichen in die Balken, schnitzte in die Eck- und Stützpfosten Schlangen oder Neidköpfe. Die Ecken der Stockwerke oder die Giebel konnten mit dem „Wilden Mann“ gefüllt werden, Gefache wurden mit Streben in Form des Fünfkreuzes, auch Bauerntanz oder Türkenkreuz genannt, verziert. Oder auch mit dem gespiegelten U, dessen Form an einen Sitz erinnert, Zeichen für Muße. Zugleich ist es ein Feuerschutz, es stellt die Form der Trageisen zum Feuerholztragen dar. Das Andreaskreuz als Mehrungszeichen ist oftmals unter dem Schlafzimmerfenster zu finden.
Als Feuerschutz galt auch die Feuerspindel, das verzierte S. Auch wenn es in Deutschland noch über 2 Millionen Fachwerkhäuser gibt, gehen doch jährlich hundert verloren, wenn auch nicht alle durch Feuer.
Fachwerkbauweise gibt es seit der Jungsteinzeit, aber wo steht das älteste erhaltene Fachwerkhaus Deutschlands? In Marburg gibt es eines aus dem Jahr 1321, in Limburg gar von 1289. In Esslingen aber gibt es in der Heugasse ein Fachwerkhaus aus dem Jahre 1261. Fachwerkhäuser haben Türschwellen, sie werden wie in der modernen Fertigbauweise aus Rahmen gebaut. Diese Rahmen liegen pro Stockwerk übereinander, deshalb ragen die oberen Geschosse über die unteren in die Straße hinein als neigten sich die Häuser einander zu.
Stockwerk heißt es, weil der Zimmermann mit dem Bauherrn gemeinsam das Stockmaß festgelegt hat, darauf basiert der Aufbau des Rahmenwerks. Zimmerleute wurden übrigens nach Tagwerk bezahlt, Steinmetze nach Stückwerk. Die Abbundzeichen der Zimmerleute im Holz lassen wie bei den Steinmetzzeichen die Reise des jeweiligen Handwerkers von Ort zu Ort nachvollziehen.
Das Holz des Fachwerkrahmens hatte die Stockwerke und den Dachstuhl mit der Deckung zu tragen, plus das Gewicht von Schnee und Wind. Das Holz wurde nur im Winter nach Mondphase gefällt, im Frühjahr gesichtet und dann gleich verbaut. Im Wald wählten Bauherr und Zimmermann die Stämme aus; es gab jedoch immer weniger Eiche, so daß man nur noch die Wetterseite aus Eiche zimmerte und für den Rest auch Nadelholz verwendete.
Bei einer Fachwerkführung in Mosbach (www.mosbach.de) erfährt man, daß in einem einzigen Haus 14 verschiedene Holzarten verbaut sein können, alle frisch und nicht abgelagert. Der Rauch konservierte das Holz und reinigte zugleich die Luft. Ein winziges Fachwerkhaus steht übrigens auch in Mosbach: Haus Kickelhain mit 26 Quadratmetern Grundfläche.
Handwerkerlöhne und Baukosten in früherer Zeit
50 Kreuzer Lohn bekam 1803 ein Zimmermann am Tag. Vier Kreuzer waren ein Batzen, 60 Kreuzer ein Gulden. Laut einer Breuberger Quelle war im Jahr 1807 ein Gulden knapp 13 Euro wert. Der Zimmermann bekam also pro Arbeitstag knapp 11 Euro.
Ein Handlanger im Bauhandwerk verdiente damals 12 Groschen pro Tag (1 Groschen = 3 Kreuzer, ein Kind arbeitete für 1 Groschen. Den Mönchen ging es zu dieser Zeit gerade noch gut, denn sie erhielten den Tagelohn der Bauhandlanger plus 2,3 ltr. Wein pro Tag! Doch 1803 wurden die Klöster aufgelöst, ihr Vermögen der weltlichen Politik zugeschlagen, außer den erforderlichen Budgets für Seelsorge, Caritas und Unterricht.
In der Folge verkauften die säkularisierten (verweltlichten) Klöster ihr „Tafelsilber“: 1850 wurde die Bibliothek des Klosters Schönau für 6000 Gulden an einen Miltenberger Kaufmann verkauft, aus dem Verkauf der Gutenbergbibel konnte das Kloster Melk in Österreich das komplette Dach neu decken lassen.
Seit der Mensch seßhaft wurde und das Feuer nutzbar machte, kann er auch Brot backen.
Das Mehl dazu wurde damals wie heute aus Getreidekörnern gemahlen, und aus einfachen Handmühlen mit zwei Steinen entwickelte sich die allererste Form des Maschinenbaues: die Mühle. Noch heute zeigt Logo der Maschinenbauer ein Getrieberad, wie es in einer Mühle zur Übertragung der Kraft vom Mühlrad oder den Windflügeln auf das Mahlwerk erforderlich ist. Entlang der Modau gab es von der Neunkircher Höhe bis nach Eberstadt und Pfungstadt bis nach dem 2. Weltkrieg etwa 40 Wassermühlen, die höchstgelegene ist die Neumühle in Brandau.
Rotkohl, Tee und Läuse
Zwiebelschalen sind die bekanntesten Farbgeber für traditionell gefärbte Ostereier, auch Rotkohl und Tee sowie die Koschenille-Laus, bekannt von Schminkfarben, ergeben hübsche Farbschattierungen. Von Pink über Blau bis Braun, marmoriert oder mit Zitronensaft beschrieben... Zum Färben mit Zwiebelschalen kocht man die Eier mit etwa zwei Handvoll Schalen in drei Litern Wasser auf und läßt sie dann je nach gewünschter Farbe zwischen 30 und 60 Minuten ziehen. Die Eier werden gelb, bordeaux oder braun.
Warum bebt immer wieder die Erde im Odenwald? Bei ihrem Vortrag über Erdbeben im Odenwald erläuterte dies Dr. Jutta Weber vom Geo-Naturpark Bergstraße-Odenwald.
Erst am 14. März 2015 gab es wieder ein Beben, auch an Ostern wackelte die Erde. Ein Jahr zuvor, Ende März 2014, gab es das bisher auf der nach oben offenen Richterskala höchste Beben mit Stärke 4,2. Dies ist eher schwach.
Weiterlesen: Erdbeben im Odenwald - zwar häufig, aber nicht allzu stark
In manchen alten Bauernhäusern, in der Stadt auch - sehr selten! - in historischen Wohnhäusern, entdeckt man zuweilen als unterste Schicht auf dem Wandputz schablonierte Malereien. Diese kunstvollen Wanddekorationen schufen sich die Bewohner in früheren Zeiten, als Tapeten noch etwas für Fürstenhäuser waren.
Regionalmuseum Reichelsheim: Malerutensilien
Die Wände der Wohnung wurden früher meist mit Musterwalzen verziert, die die Farbe direkt auf den Putz brachten. Erst mit dem Wirtschaftswunder konnten sich die Leute Tapeten leisten, und die Putzkunst geriet in Vergessenheit. Aber in den letzten Jahren kommen kunstvolle Wanddekorationen mit Musterschablonen, Musterwalzen, Schwämmen und Stempeln wieder in Mode, lassen sie doch viel mehr Raum für Kreativität als die schreiend-bunten Tapeten.
Am Anfang war der Stempel. Kinder kennen den Kartoffeldruck, man schnitzt sich eine Form aus einer rohen Kartoffel, die in Farbe getunkt und auf die zu dekorierende Fläche gedrückt wird. Das wirkt auf jeden Fall sehr abwechslungsreich, denn nicht ein Stempelabrdruck gleicht dem anderen aufs Haar.
Regionalmuseum Reichelsheim: Schablonen
Aus dem Stempel wurde ein Rollstempel, der über die Fläche gerollt werden konnte und das Muster so in Bahnen vervielfältigte. Die Rollstempel entwickelten sich zu den verschiedenartigsten Musterwalzen. Um eine gleichmäßigere Farbverteilung beim Rollen zu erzielen, bekamen die Walzen integrierte Farbspender, die ein Farbbad füllen, durch das die Walze bei jeder Bewegung fährt. Über ein System aus drei Walzen wird die Farbe aus dem Farbbad auf eine Übertragungswalze gebracht, die wiederum die Musterwalze einfärbt. Später wurde der Farbkasten zusätzlich beweglich angebracht, so daß er bei jeder Bewegung der Musterwalze automatisch senkrecht hing und keine Farbe herauslaufen konnte. Wahre Könner unter den Malern konnten allerdings auch mit dem früheren starren Farbkasten klecksfrei arbeiten.
Als Farbe wurde Leimfarbe verwendet. Diese läßt sich sehr viel klarer aufmustern, da moderne Dispersionsfarben sich am Rand der Musterwalze anlagert und ein unscharfes Musterbild ergibt. Auch läßt sich das Gerät bei Verwendung von Leimfarbe leichter reinigen. Die Farben wurden aus Trockenfarben wie Kreide oder Farbpigmenten mit Wasser teigig gerührt. Wichtig ist daß alle Pulverknöllchen sich auflösen. Danach wird dem dicken Farb-Wasserteig der Leim hinzugegeben, bis eine schöne glatte anschmiegsame Paste entsteht. Als Leim verwendete man Zelluloseleim in einem Verhältnis von 1:25, da man einen fertigen Farbansatz zwar jederzeit verdünnen kann, aber zum Dickermachen wieder Farbe zugesetzt werden muß, so daß man am Ende viel zuviel Farbe erhält.
Auf den Wandputz, der in erster Linie das Baumaterial glatt verdecken soll und zusätzlich auch für Wärmedämmung sorgt, trug man dann zunächst die Grundfarbe auf, die der Raum bekommen sollte. Ist diese trocken, steht dem kreativen Dekorationsvorgang mit der Musterwalze nichts mehr im Wege. Die Kunst besteht darin, die Rolle gleichmäßig von der Decke bis zum Boden zu führen und rechts oder links davon genau die passende Ansatzstelle für die nächste Bahn zu treffen. Bei Hobbydekorateuren kann es deshalb vorkommen, daß ein und derselbe Raum drei Überstriche erhält, bis das Bemustern richtig sitzt. Der Profi machts aus dem Handgelenk.
Ein hübscher Nebeneffekt des Musterrollens ist, daß man mit der Musterwalze nicht bis zur Decke und zum Boden mustern kann. So ist man gezwungen einen umlaufenden Fries zu gestalten, der den Übergang zwischen Decke und Wand dekorativ betont oder auch kaschiert, je nach Geschmack. Der Übergang zwischen Wand und Boden mußte sowieso durch eine hölzerne Lamperie abgedeckt werden, unter der die Kabel verliefen. Beim Abschrauben solcher alten Lamperien (Bodenleisten) entdeckt man viel Interessantes: alte Münzen und Haarnadeln, längst Verlorengeglaubtes, Staubmäuse und zuweilen auch Mäuseknoddelchen.
Auch dekorativer Wandputz wurde früher für Innenräume eingesetzt, wo man auf die kunstvolle Malerei verzichten wollte. Im Marmoritwerk in Hochstädten wurde von 1865 bis 2008 Edelputze hergestellt. Der Marmor dafür wurde im Bergbau auf dem Gelände zwischen Bangertshöhe, Hochstädten und Fürstenlager gewonnen und in Hochstädten gemahlen, zu Kalk gebrannt und zu verschiedenen Produkten verarbeitet. Niemand in Hochstädten beklagte sich über die Staubentwicklung, denn der ganze Ort lebte vom Betrieb, ähnlich wie es in Lautern war als die Ciba Geigy Marienberg GmbH (die "Blaufabrik") noch produzierte.
Das "Auerbacher Weiß" war eines der bekannten Fabrikate aus Hochstädten, es wurde für die Betonwerksteinproduktion und in Trinkwasserentsäuerungsanlagen verwendet.
1982 verkaufte der langjährige Firmenchef Dr. Karl Linck im Alter von 78 Jahren das Marmoritwerk an Fa. Knauf GmbH, es wurde noch ein paar Jahre weiter produziert, aber man mußte bereits Marmor aus dem italienischen Carrara importieren, um in Hochstädten Edelputze, Unterputz, Strukturputz, Wärmeschutzputz, Dichtschlämme, Mörtel, Isoliergrund und vieles mehr herstellen zu können. 2008 wurde die Produktion eingestellt und die Betriebsgebäude wurden abgerissen. Sehr schade ist vor allem, daß das Verwaltungsgebäude mit wunderschönen Putzdekorationen in Schutt und Asche aufging. Eine Vorstellung, wie kunstvoll die Fassade einst von Grafiker Reinhold Schön entworfen und von Stukkateur Wilhelm Groen aus Hochstädten realisiert worden war, kann man aber noch heute bekommen, wenn man sich die Königshalle in Lorsch anschaut. Ihre karolingische Fassade diente als Vorbild für den Grafiker. Das Hochstädter Wappen zeigt seit 2007 Schlägel und Eisen, die traditionellen Bergbauwerkzeuge, 143 Jahre lang währte die Bergbauperiode.
Marieta Hiller, Januar 2015
Über einen Ausflug in das Bergwerk in Hochstädten, dessen Eingang heute unzugänglich unter Erdreich verborgen liegt und dessen Stollen voller Grundwasser stehen, finden Sie hier Fotos und Infos!
Literatur zum Marmoritwerk Hochstädten: "Der Bergbau auf Marmor bei Bensheim-Auerbach und Hochstädten" von Michael Vettel ISBN 978-3-926707-15-4, bitte bei Ihrem Buchhändler vor Ort bestellen, nicht über den großen Internetversandhandel. Warum? Lesen Sie hier!
Vor der Pfarrscheuer in Beedenkirchen:
neu ist er und ganz rot ist er. Schon den ganzen Winter über steht er in der Ecke des Wartehäuschens im Pfarrhof von Beedenkirchen und füllte sich peu à peu mit Büchern. Er wünscht sich aber einen ganz vollen Bauch - mit ganz vielen Büchern - dicke oder dünne, alte oder neue, gelesene oder nicht gelesene, für Kinder oder für Erwachsene, und … und … und. Die Menschen sollen seine Tür öffnen, hineinlegen, was sie übrig haben und rausnehmen, was sie interessiert. Sie können die gelesenen Bücher behalten oder wieder zurückstellen, oder ein andres dafür reinstellen. Nur eins noch: Von Pornos und rechtsradikalem (Lese-)Futter wird ihm schlecht, das spuckt er wieder aus. Hochoffiziell wurde der rote Bücherschrank mit Buchstaben zum Trinken und Essen eingeweiht nach dem Gemeindegottesdienst am 9. Februar 2014.
Zur Hochblüte der Knopfdreherei in Reinheim in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellten etwa 30 Familien aus Knochen Knöpfe her, die sogenannten Beinknöpfe. Sie waren sehr gefragt, und die Reinheimer konnten den Bedarf an Massenware, vor allem auf den Märkten in Erbach und Darmstadt, decken. Aus dem Abfall konnte noch Knochenmehl, ein guter Dünger, hergestellt werden. Die Knopfdreherei ernährte ihre Familien oft besser als die Landwirtschaft.
Knopfbild aus der Reinheimer Knopf-Ausstellung 2013
Seien sie vornehm unsichtbar oder auch mollig weich und warm: Kleider braucht jeder Mensch. Warum eigentlich ist der Mensch so nackt und schutzbedürftig? Gab er sein wärmendes Fell auf, als er das Feuer entdeckte? Schien ihm sein haariger Körper zu tierisch, zu unvornehm? Niemand weiß, was zu jenen fernen Zeiten am Höhlenfeuer in den Köpfen der Alten vor sich ging.
Zeichnung: M. Hiller
Auf jeden Fall sind viele Stunden Tag für Tag der mühseligen Arbeit nötig, damit sie sich ihre Kleidung schaffen können. Der Mensch wäre aber nicht der Mensch, würde er nun einfach eine wärmende Hülle herstellen. Nein, da muß schon etwas Würdiges, Kunstvolles gewebt, gewirkt, gestickt oder genäht werden.
Wie lange mußte ein Mädchen in früheren Zeiten an seiner Aussteuer nähen, bevor die Truhe wohlgefüllt und das Mädchen damit heiratsfähig war!
In wieviele Faltenwürfe legten die alten Römer und Griechen ihre Gewänder - Elle um Elle!
Märchenprinzessinnen zogen lange lange Schleppen an ihren kostbaren Kleidern hinter sich her, sofern diese nicht von zahllosen Zofen getragen wurde! Seide! Allein welch märchenhafte Geschichten sich um Seide ranken, um die im Haarknoten einer chinesischen Prinzessin in die westliche Welt geschmuggelten Seidenraupen! Mondsilber mußte in kühles Linnen verwoben, Elfenhaar zu zartem Organza gefügt werden.
Ein weichgepolsterter Pantoffel und etwas Brot und Salz
Schauen wir ins alte Rußland: Ansiedlungen um Ziehbrunnen und uralte Mythen, wo die Dvorovoi, die Hausgeister, über die Gesundheit des Viehs wachten. Ihnen stellte man einen weichgepolsterten Pantoffel zum Wohnen in die Küche, wo es auch Brot und Salz für sie gab. In vielen Generationen drohten Eltern daß die Geister die Kinder mitnehmen und in Rinde verwandeln würden, wenn sie nicht brav wären. Und es wurden Kleider reich bestickt, die den Waldnymphen, den Rusalki, dargebracht wurden. Man erzählte sich, daß die Rusalki im Frühsommer aus den Wassern stiegen und dort wo ihr Fuß die Erde berührte grünes Gras wachsen ließen. Aber sie konnten genausogut einen Menschen zu Tode kitzeln.
Als die Menschen ihre Kleidung noch selber machten...
Das waren jene uralten zauberdurchwirkten Zeiten, als die Menschen ihre Kleidung noch selbst anfertigten. Bald aber war eine neue Zunft geboren: die Gilde der Armen. Wurde zuvor alles - Speis und Trank, Kleidung, Werkzeug, ein Dach über dem Kopf und alles was das Tagwerk so erforderte - in der Familie selbst geschaffen, so gab es in den Dörfern doch immer auch jene, die nichts hatten. Die Taglöhner, das Gesinde: Knechte und Mägde, die Hintersassen und Wandergesellen.
Wer nicht sein eigenes Fleckchen Land zu beackern hatte, mußte sein täglich Brot bei anderen verdienen, und so begann die Gilde der Armen, mit Leineweben, Schafscheren und Flachsspinnen für die Wohlhabenden ihre Töpfe zu füllen. Wieviele Märchen erzählen uns von armen Leinewebern, wie mager erscheint uns das tapfere Schneiderlein! Ganze Landstriche, mit kargen Böden gestraft, versorgten sich fortan durch das Herstellen von Kleidern. Ihre Häuschen wurden um die mächtigen Webstühle herumgebaut, schon die Kinder hockten Stund um Stunde in der Webstube, keine Schule, kein Spiel, keine Kindheit war ihnen vergönnt. Nur die Geschichten, die abends nach getaner Arbeit, bei einem trockenen Kanten Brot und einem Schälchen Ziegenmilch erzählt wurden, die erfreuten die Kleinen.
Die Leineweber und die Tuchhändler: arm und reich
Eine solche Geschichte soll auch hier nun erzählt werden, doch ob sie auch den armen Leineweberkindern gefallen hat, das wissen wir nicht: es ist die Geschichte des Tuchhändlers Jost Linnweber und seiner Gattin Katharina aus der reichen Handelsstadt Gelnhausen, die dort vor vielen hundert Jahren lebten, handelten und - liebten.
Die beiden sollen ja nicht immer einen freundlichen Umgang miteinander gepflegt haben, und ja: oft war der Umgang mit anderen freundlicher! Auch was sich nicht so innig liebt, neckt sich eben, und so gingen beide zwar oft auf Tuchfühlung, aber nicht immer miteinander - besonders dann, wenn Jost auf einer Handelsreise war. Die Via Regia, die königliche Straße mit ihren Umspann-Gasthöfen war dann Josts Zuhause.
Sie verband die beiden großen Messestädte Frankfurt und Leipzig miteinander, Handelsplätze von Rang schon in jenen Zeiten. Tuchballen türmten sich auf Josts Wagen, mühsam zwängte er sich durch das Gelnhauser Nadelöhr, kurz bevor er endlich seine Lagerräume erreichte. Wird das Fuhrwerk wohl hindurchpassen? Sind die Gurte um die kostbaren Seidenballen fest geschnürt?
Die Pfarrgasse in Gelnhausen wird es zeigen: drei Meter breit ist diese Engstelle, und alle Handels- und Fuhrleute haben ihre Ladung nach dieser Breite zu richten. „Von Leipzig an der Pleisse, bis Franckfurtt an den Main, wirds auf der gantzen Strasze die engste Stelle sein.“ so steht dort noch heute an der Hauswand zu lesen. Doch nein! Die Ballen stehen über, es geht nicht durch das Nadelöhr!
Abladen, durchfahren, aufladen - und sogleich sind finstere Gestalten zur Stelle, die für ihre Ladearbeit klingende Münze fordern. Auch im Stadtsäckel klingelt es, denn die Verzögerung kostet Strafe. Ganz zu schweigen von den Fuhrleuten, die vor und hinter der Engstelle ungeduldig werden. Endlich ist es geschafft!
Jost stößt die Pforte seines Hauses auf, ruft „Katharina! Hier bin ich wieder!“ - und schon erschallt von oben Katharinas Stimme: „Wurde ja auch endlich Zeit! Das Essen ist jetzt kalt und ich gehe zum Konzertsalon.“
Schafhaltung: seit der Mensch seßhaft wurde
Doch mit unserer Erzählung haben wir einen gewaltigen Sprung gemacht: kehren wir zurück zu unseren armen Leinewebern in den abgelegenen Dörfern. Die ganze Familie, vom Kind bis zum Alten, mußte mitarbeiten. Schafe mußten gehütet und geschoren werden. Das übernahmen die Buben, die im Sommer in Hütten bei den Schafen lebten.
Noch heute klingt uns im Wort für Hütte das Hüten nach. Schon bald, nachdem die Menschen in der Steinzeit erkannten, daß man Schafe nicht nur essen, sondern auch ihre warme Wolle nutzen kann, hegte und pflegte man die nützlichen Tiere noch mehr. Eine jener archaischen Schafrassen lebt noch bis zum heutigen Tag: das Soayschaf, fast wild und direkt aus der Steinzeit. Wer eine Herde sehen will, muß sich heute jedoch in die Nutztier-Arche begeben, denn als „Wirtschaftsschaf“ bringen die Soays zu wenig Ertrag.
Soayschafe
Anfangs kämmte man die Schafe nur aus, um an Wolle zu kommen. Dann aber begann man sie zu scheren. Im Mittelalter war jede Familie verpflichtet, Schafe zu halten und ihren Anteil für einen gemeinsamen Schäfer beizutragen. So zog der Schäfer mit großen Herden von Weide zu Weide, bis es Zeit war die Einsamkeit zu verlassen und die Schafe geschoren werden mußten. Im Frühsommer war es soweit: die Schafe wurden in den Fluß getrieben, um sie zu waschen. Waren sie wieder trocken, so scherte sie der Schäfer, oft gemeinsam mit Helfern aus dem Dorf.
Und weil es oft Mitte Juni, wenn die Schafe schon geschoren sind, noch einmal kühles Wetter gibt, spricht der Volksmund von der Schafskälte. Die Lämmer und die Muttertiere wurden deshalb erst nach diesen Tagen geschoren.
Die meisten Schafe gab es vor dem 30jährigen Krieg: da registrierten die Kasseler Ämter 30.000 Tiere. Später wurden nur noch 2000 Schafe gezählt, und als der Krieg vorbei war, herrschte großer Wollmangel.
Die Schafhaltung wurde nie wieder so wichtig wie vor diesem Krieg. Erst heute wissen die Menschen wieder, daß Schafe und Wolle für ein gutes Auskommen sorgen können: aus Italien etwa berichtet der Bauernverband Coldiretti, daß im letzten Jahr 3000 junge Männer den Beruf des Schäfers ergriffen und so lieber auf eigenen Füßen stehen, anstatt daheim der Mamma auf der Tasche zu liegen.
Schäferei heute: nicht einfacher als in historischen Zeiten
Dabei ist die Schäferei heute nicht leichter als vor vielen hundert Jahren: ein fast 80jähriger Schäfer aus Karlstein im Spessart erzählt davon. Adolf Müller war schon als Kind mit den Schafen unterwegs und verbrachte auf den Weiden rund um Babenhausen viele Sommer und Winter unter freiem Himmel. Schon Vater und Großvater waren Schäfer, und mit fünf Jahren mußte auch Adolf mit hinaus. Zuhause faul herumsitzen ist nichts für den Schäfer: noch immer ist er draußen unterwegs, inzwischen nicht mehr mit eigener Herde, sondern im Dienst eines Stockstädter Schafhalters, der ihn morgens hinausbringt und abends in die warme Stube holt. Nun aber sagt er: „einmal muß Schluß sein“, ruft seinen treuen Begleiter Mohr, den schwarzen Hirtenhund, zu sich und wird in diesem Winter endlich am warmen Ofen sitzen.
Die Weber: Stoff für Dramen und Opern - und brisantes Thema auch heute
Doch zurück ins Mittelalter: in den Weberhäuschen wurden die Stoffe nur hergestellt. Dann mußte ein Familienmitglied „den Buckel krumm machen“, wenn die Ballen geschultert wurden, um zum nächsten Handelsplatz gebracht zu werden. Dort gab es wenig für die Weber, der Händler aber sorgte schon dafür daß es ihm selbst gutging.
Bekam der Weber einen Hungerlohn, ebenso wie der Schäfer, der Schneider und der Knopfmacher, so entwickelte sich das Bäuchlein der Handelsherren prächtig. Da war unser Jost nebst Gattin Katharina ja noch ein bescheidenes Licht. Mit erträglichem Gewinn verkaufte er die ringsum erhandelten Ballen in Frankfurt, nachdem er sich durch die Pfarrgasse gequetscht hatte.
Der Ballen aber wurde kostbarer und kostbarer von Händler zu Händler. Bekanntestes Beispiel sind die Fugger aus Augsburg. Mit Baumwolle aus Italien errichteten sie einen mächtigen Familienkonzern und stiegen sogar in den Hochadel auf.
Doch immer und zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, ist die Geschichte der Kleidung eng mit der Geschichte der Armut verknüpft: die Baumwollpflücker, als Sklaven aus Afrika nach Amerika gebracht, legen in ihren wehmutsvollen Liedern Zeugnis davon ab. Eine ganze Musikrichtung entwickelte sich daraus: der Blues. Ob die Schafhüter im australischen Outback wirklich viel Freiheit und Lagerfeuerromantik erlebten, ist ungewiß. Und was die Kinder in Indien, in Taiwan und Pakistan über ihre Arbeit an unseren modischen Kleidungsstücken denken, das möchte vielleicht niemand so genau wissen.
Vom Schaf zum Menschen im Einklang mit Natur und Wirtschaftlichkeit
Es geht aber auch anders: auf Biohöfen in Deutschland werden Schafe gehalten und ihre Wolle geschoren, denn Schafschurwolle ist inzwischen ein begehrtes weil knappes Handelsgut geworden. Aus einer rebellischen Landkommune jugendlicher Aussteiger entwickelte sich die Schäfereigenossenschaft Finkhof: seit dreißig Jahren gibt es dort eine Näherei, eine Färberei und natürlich eine Weberei, um alle Stationen der Wolle von Anfang auf dem Schaf bis zum fertigen Kleidungsstück selbst zu übernehmen. Der internationale Verband der Naturtextilwirtschaft e.V. nahm die Finkhofleute 2001 auf, denn sie produzieren konsequent ökologisch. Was wie ein Märchen klingt, ist jedoch Wirtschaftsrealität: ein Computer gehört dazu, ein Warenwirtschaftssystem und natürlich auch ein Steuerberater.
Und doch bewahren solche Ausnahmen für uns Märchenfreunde die Hoffnung, daß alles endlich gut werden wird. Wer weiß, vielleicht wird man sich in späteren Zeiten Märchen erzählen nicht nur von den Ehezwistigkeiten der Linnwebers aus Gelnhausen und über den unermeßlichen Reichtum der Augsburger Fugger, sondern auch über moderne Schäfer, die Schäferwagen mit Solarkollektoren haben und ihre Schafe zwischen ICE-Trassen und Autobahn zu einem Kräutlein am Wegrand führen, so köstlich wie im Märchen!
Der rote Faden oder das Knäuel der Ariadne?
Wir spinnen einen Gedankenfaden und das Leben verwebt ihn zu einem Schicksalsteppich, so erklären uns die klugen Leute von Kircher Webgeräte in Driedorf.
Das Weben sei bereits in der Antike das Sinnbild für das Denkvermögen des Menschen, das Muster der Verflechtung offenbart Klugheit. Die Erdenmutter Rhea-Kybele habe den Phrygiern im östlichen Kleinasien das Weben gelehrt, und Göttin Athene ist Beschützerin der webenden Frauen und Weberin zugleich. Die nordischen Nornen spinnen den Gedankenfaden, die Walküren verweben ihn zu menschlichem Geschick.
Die Frauengestalten in Homers Ilias und Odyssee werden meistens webend dargestellt, und in der altgermanischen Edda webt Gudrun Bildteppiche. Ursula und Kersten Kircher haben die Geschichte des Webens durchforstet und Spannendes zutage gefördert. Ihre Firma war 1924 von Schreiner Walter und Kunstgewerblerin Mia Kircher in Marburg gegründet worden. Mit Bandwebgeräten begann alles, es kamen große Webrahmen vor allem auch für Laienweber dazu. Mit Webkursen in Volkshochschulen, Frauenverbänden und anderen Institutionen begannen die beiden Jugendbewegten 1927 ihre Idee der Hausweberei zu verbreiten.
Später, im 2. Weltkrieg, mußten die Kirchers kriegswichtige Teile für Lazarettbetten herstellen, dann fielen Bomben. Man baute das Werk wieder auf und begann mit Webkursen. Inzwischen sorgt die Firma Webgeräte Kircher in der dritten Generation dafür, daß nie vergessen wird, wie man aus Schafwolle Stoffe weben kann. Es wurde unterrichtet, gebaut und geschrieben, und wer’s nicht glauben will, der kann sich selbst überzeugen. Vor einigen Jahren zog das Werk von Marburg ins Westerwalddorf Driedorf, und dort ausgerechnet in den Schneiderstriesch.
Der Straßenname Schneiderstriesch weist in zweifacher Weise auf Textiles hin: als Triesch, Driesche oder auch Dreesch, wurde früher das Land bezeichnet, das gerade nicht ackerbaulich genutzt war. Schafe weideten darauf.
Drieschlandschaft im Kellerwald
Und so wird es sich gewiß einst vor langer langer Zeit einmal zugetragen haben, daß ein tapferer Schneider auf seiner großen Stopfnadel dahergeritten kam, die schönen wolligen Schafe sah und beschloß, hier zu bleiben und zu weben. Geschichte und Geschichten der Weberei, sehr unterhaltsam und ausführlich beim Holzkircher zu finden... Marieta Hiller, Herbst 2013
Ja, es stimmt: der Wolf ist im Odenwald, viel gefährlicher aber ist die Wildsau ...
Seit September 2017 ist es Gewißheit: ein Wolf streift durch den Odenwald. Im November wurden Wolfsrisse in Mossau nachgewiesen. Da Wölfe nachts bis zu 80 Kilometer Strecke zurücklegen können, ist es möglich, daß er auch unsere Region besucht.
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