Panzerfaust und Sojabohnen - was von 1945 im Gedächtnis blieb

so überschrieb Günter Beilstein seinen Erlebnisbericht, den er 1995 verfaßte. Im Winter 1944/45 war er neun Jahre alt und hatte mit seiner Familie aus dem Ruhrgebiet Zuflucht in den Häusern im Forschd gefunden. Den Bericht erhielt ich dankenswerterweise von Ruth Steinmann 2021.

Viele mehr oder weniger Prominente dürfen in diesen Tagen, 50 Jahre nach Ende des bisher größten und vorläufig letzten aller Weltkriege, öffentlich darüber berichten, wie sie selbst den Übergang vom tausendjährigen Reich zur demokratischen Neuzeit erlebten. Auch ich erlebte ihn, und wenn ich darüber berichte, so zunächst zur Selbsterinnerung, aber auch für Kinder und Enkel als Beitrag zur Familiengeschichte. Immerhin ist nicht jeder bei solch einem historischen Wendepunkt life mit dabei - und wünschen wollen wir es eigentlich auch keinem.

Gadernheim liegt an der Nibelungenstraße im Odenwald, etwa zwischen Bensheim und Lindenfels. Die leicht, aber stetig ansteigende Landstraße führt unterhalb des Dorfes durch dichten Wald. Ein Bach begleitet sie, damals ideales Spielgelände für uns Kinder, aber eine Zeitlang auch Jagdrevier für einige polnische Zwangsarbeiter, welche zu unserem Erstaunen mit der bloßen Hand die Forellen unter der Uferböschung herausfischten. Die erste, noch isoliert stehende Häusergruppe, auf die man rechter Hand, von unten kommend, stieß, lag etwa 100m von der Straße weg und hieß "der Forscht". Hier waren meine Mutter und ihre beiden Söhne bei dörflichen Verwandten untergekrochen, mit uns noch unsere ältere Kusine Hilde, damals durch spezielle Umstände sozusagen festes Mitglied der Familie.

Dieses Grüppchen hatte sich 1944 rechtzeitig aus Lodz - damals Litzmannstadt - abgesetzt, bevor die Russen die nationalsozialistischen Eindeutschungsmaßnahmen durch ihren Einmarsch in Polen beendeten. Unser beamteter Vater, seinerzeit als Gerichtsvollzieher und Mitvollstrecker solcher Maßnahmen nach Polen abkommandiert, war danach noch spät zur Verteidigung von Königsberg eingezogen worden und befand sich bei Kriegsende in russischer Gefangenschaft. In unsere "Heimatwohnung" in Mülheim/Ruhr war inzwischen eine ausgebombte Familie eingewiesen worden. Dorthin konnten wir also zunächst nicht zurück und verkrochen uns im odenwäldischen Steinau auf dem Hof von Onkel Leonard. Aus dieser Gegend stammt meine Familie väterlicherseits, und die Mutter von Onkel Leonard war die Schwester unseres Opas. So wie ihr robuster Bruder war diese ein besonders harter Brocken, was ihr unsererseits den Spitznamen "Aal-Bums" einbrachte, was man frei mit "Alter Granatwerfer" übersetzen könnte. Ihretwegen hielten wir es dort nicht lange aus. Nach einem Schultag in der einklassigen Volksschule von Steinau zogen wir um nach Gadernheim.

Wir bewohnten dort ein Zimmer bei den Onkels Hannes und Karl, ihren Frauen Elis und Friedchen sowie Friedchens und Karls Sohn Oswin, der etwas jünger war als mein Bruder Frank und ich mit 5 und 9 Jahren. Den verzwickten Verwandschaftsgrad zu diesen Leuten habe ich nie begriffen und später auch nicht aufgeklärt. Onkel Hannes hatte einen Arm ab und ein Motorrad im Schuppen. Beides imponierte mir sehr.

Ich war mittlerweile im 3. Schuljahr und lesehungrig. Einige Bücher konnte ich mir beim Walachei-Günter leihen, der wie ich Flüchtlingskind war und mit seiner Mutter in der Nähe, eben in der "Walachei", wohnte. Zur Schule im Dorf hatte ich eine Strecke zu gehen, anfangs unter erschwerten Bedingungen, denn die etablierte Kindermeute versuchte mich Fremdling zu jagen. Einmal flüchtete ich zu Onkel Philipp im Oberdorf - das ist der, welcher später unten am Dorfeingang den Steinmetzbetrieb führte. 

Philipp Eichhorn, geboren am 11. September 1909 in Gadernheim, gründete am 01. April 1938 mit Peter Walter, geboren am 26. Januar 1911 in Lauf an der Pegnitz das Granit- und Syenitwerk Eichhorn & Walter. Siehe https://eichhornwalter-natursteinwerk.de/sodcms_generationen.htm

Nebenan im "Forscht" wohnten Katzenmeiers mit 3 Kindern in einem Uralt-Fachwerkhäuschen, davor befand sich die Jauchegrube, in der Bruder Frank versehentlich seine ersten Schwimmversuche machte. Hilde wohnte einige Meter weiter beim Bauern Bickelhaupt, später gesellten sich noch ihre Mutter, unsere Tante Maria aus Hamborn, und unser gemeinsamer Opa aus Solingen für kürzere Zeit dazu. Heinz Bickelhaupt gehörte zu meinen Spielkameraden, und sein Vater hat mir aus Blechstücken die Bindungen für meine ersten Skier gefertigt.

Der Winter 44/45 mit viel Schnee war vorüber. Schon zwei Tage lang hatten wir fernen Geschützdonner gehört und ab und zu deutsche Soldaten vorbeifahren sehen. Allmählich kam eine gewisse Spannung auf. Wir Kinder durften den Hof nicht mehr verlassen, was auch in den Wochen vorher nicht ganz ungefährlich war. Die Alliierten hatten längst die Luftkontrolle. Amerikanische Jagdbomber, die gelegentlich im Tiefflug über das Dorf donnerten, unterschieden bei ihren MG-Salven nicht immer, ob sich da unten Militäreinheiten, grasende Kühe oder spielende Kinder bewegten. Außer von erschossenen Kühen drangen aber keine Verlustmeldungen zu uns durch. Einmal jedoch schien es knapp zu sein. Wir konnten in letzter Sekunde am Waldrand hinter einige Felsbrocken hechten, bevor uns drei Jabos nach einer ersten Beobachtungsschleife ins Visier bekamen.

Der Geschützdonner kam näher, die Nibelungenstraße von Reichenbach und Lautern herauf. Eine Gruppe von 5-6 deutschen Landsern nistete sich im "Forscht" mit ihrem MG ein, einer strategisch günstigen Stelle mit Blick und freiem Schußfeld auf die etwas tiefer gelegene Straße. Was wollten die denn noch? sich selbst noch opfern, uns mit in Gefahr bringen? Wie konnten sie noch an irgendetwas glauben, was auch nur entfernt nach Endsieg aussah?

Wem fühlten sie sich noch verpflichtet? - Solche Fragen konnte man erst später stellen, und Antworten darauf blieben meist unbefriedigend. Für uns zählte im Moment nur die akute Bedrohung durch einen von den Deutschen provozierten Gegenschlag der heranrückenden Amis. Meine Mutter und die anderen Frauen brachten es schließlich fertig, die Landser zum Abrücken zu bewegen. Diese packten ihr Kriegsgerät zusammen und verzogen sich in den nahem Wald. Wir haben sie nicht mehr gesehen; vielleicht war es ihre Munition, zwischen der wir noch Monate später beim Spielen herumtrampelten.

Am nächsten Vormittag rasselte der erste Panzer die Landstraße hoch. Wir hatten uns mit allen Mitbewohnern in den Keller verkrochen, konnten aber durch das schmale Klappfenster beobachten, wie er plötzlich abrupt stehen blieb, fast gleichzeitig mit einem dumpfen Schlag. Da hatte doch einer der allerletzten "Helden" aus dem Straßengraben heraus noch seine Panzerfaust abgefeuert! Lange aufgehalten hat er die Front damit nicht. Bereits eine halbe Stunde später rollten weitere Panzer, LKWs und Jeeps die Straße herauf und ungehindert ins Dorf - der Spuk war vorüber, wir verließen den Keller und atmeten tief durch.

Jetzt wurde mir allmählich klar, daß ich mit diesem Tag einen langgehegten Wunsch endgültig abschreiben mußte: ich konnte nicht mehr "Pimpf" werden! Diese erste Weihe zur vorstufe der Hitlerjugend pflegte man mit zehn Jahren zu erhalten - und ich war bei neun steckengeblieben! Und Vetter Manfred, mein gedanklicher vorturner auf diesem Gebiet, steckte schon lange in einer richtigen HJ-Uniform, mit Koppel, Messer und zunächst rot/weißer, dann sogar grüner Kordel an der Schulter. Daß er dann auch noch richtig Soldat wurde, in Gefangenschaft geriet und aus dieser wegen juveniler Mickrigkeit frühzeitig heimgeschickt wurde, wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Ich war zunächst einmal sauer - und das gibt mir heute zu denken. Auf welcher ideologischen Wiese hatte man uns Kinder grasen lassen, daß mir noch 1945 solche Gedanken kamen? Ich hatte doch bereits in Lodz neben uns Deutschen die Polen als Menschen zweiter und die Juden als "Kreaturen" dritter Klasse kennengelernt, letztere nur von weitem in ihrem Ghetto, welches von der Straßenbahn durchquert wurde, die wir zwischen Wohnung und Innenstadt benutzten. Ich war von einem Lehrer in SA-Uniform zu Unrecht verprügelt worden und hatte an der Straßenecke bei der Parade zu Führers Geburtstag 3 Strophen lang (plus Horst-Wessel-Lied) den Arm hochgehalten, bis er mir fast abfiel. Ich hatte anläßlich eines Besuchs bei den Großeltern einige Bombennächte im Ruhrgebiet erlebt und wußte um die Bedeutung von Lebensmittelkarten. Trotz dieser Einblicke hatte es die NS-Propaganda wohl geschafft, mit Hilfe von Heldenverehrung und Pfadfinderromantik den Kriegsalltag aus den Köpfen der Jugend so gründlich zu verdrängen, daß das zum Schluß immer noch einer Pimpf werden wollte! Wo waren denn die damals Erwachsenen, die uns den Kopf hätten zurecht rücken müssen. was wußten sie mehr als wir Kinder, und was wollten, konnten, durften sie nicht an uns weitergeben?

Nun, Schaden an der Seele hat sich nicht eingestellt, und ich kam auch ohne die Uniform zurecht. Am Tag nach dem Einmarsch wagten wir uns wieder ins Dorf, welches bis auf eine weggeschossene Hausecke unverändert geblieben war. Unübersehbar war allerdings die Präsenz der Amerikaner, die so gar nicht feindlich wirkten, zumal sie uns von ihren Fahrzeugen herunter mit Dingen versorgten, die wir bestenfalls aus alten Märchen kannten.

So erhaschte ich auch meine erste Apfelsine - sie flog von einem Panzer - und konnte nichts damit anfangen. Beim Aufschneiden erwartete ich etwas Festeres wie bei einem Apfel, stieß aber auf ein recht matschiges Inneres, aus dem mir gelbliche Brühe über die Finger lief. Ein etwas älterer Junge erklärte mir, die sei ja sowieso faul, und luchste sie mir wieder ab. Mit dieser kleinen Panne begann die Periode der kreativen Selbstversorgung, wo immer man etwas Eß- oder Tauschbares auftreiben konnte - abluchsen ließ ich mir danach nichts mehr. Als die Amis einen LKW-Anhänge4r mit Sojabohnen zur Selbstbedienung freigaben (oder war da gar keine Freigabe erfolgt?), konnten wir immerhin 60 Pfund für die Familie an Land ziehen. Es begann eine Phase mit eiweißreichen, aber eintönigen Menus. Nur die kurze Zeit später auf dem Speiseplan erschienenen Steckrüben verankerten einen noch stärkeren Widerwillen in meinem Magen als die Sojabohnen.

Die nur kurz unterbrochene Schule lief wieder an. Nach meinem Übergang in die 4. Klasse hatten sich die Zeiten soweit normalisiert, daß wir unseren Gastgebern mit dem obskuren Verwandschaftsgrad nicht mehr länger zur Last fallen konnten. Wir verließen - streckenweise im offenen Kohlenwaggon - den Odenwald in Richtung ruhrgebiet, das wir Anfang 1942 mit dem Ziel Litzmannstadt verlassen hatten. Die Zeit, die dann folgte, gehört nicht mehr zum eigentlichen Kriegsende, aber sie war nicht minder ereignisreich und verdient eine eigene Story.

Hat Günter Beilstein diese eigene Nachkriegs-Story geschrieben? Wir wissen es nicht. Vielleicht kann jemand weiterhelfen - bitte gerne eine Mail an Marieta Hiller, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! schicken!

Lesen Sie dazu auch: Felix Klingenbeck: zum Kriegsende in Gadernheim

Marieta Hiller, Februar 2022

Was der Name Bickelhaupt bedeutet und wie er in den Odenwald kam: mit Werner Bickelhaupt, Ulrich Kirschnick und Manfred Scharschmidt hatte ich mich im Herbst 2021 getroffen, um über die Brandauer Ortsfamilienbücher zu sprechen. Werner Bickelhaupt stellte mir eine Zusammenstellung zum Namen Bickelhaupt zur Verfügung:

Demnach rührt der Name von der Beckenhaube. Dies ist ein Helm aus dem frühen 14. Jahrhundert. Der Ritter zu Pferd trug diesen Helm im Kampf, vergleichbar in etwa dem modernen "Schädelspalter", einem seit langem verbotenen Schutzhelm für Motorradfahrer des 20. Jahrhunderts. Was am Schädelspalter der Lederschutz für Ohren und Genick war, ist an der Beckenhaube der Ringelpanzer, eine Art Kettenhemd für Gesicht und Nacken. Ursprünglich trugen Ritter die Beckenhaube unter dem Kübelhelm, einer Art Topf mit Sehschlitz. Offenbar war der Beruf des Häschers und Stadtknechts in den Jahrhunderten bis um 1800 ein recht gefährlicher, denn sie trugen ebenfalls Beckenhauben.

Der Ursprung der Minks in Reichenbach: drei russische Brüder?

Im Januarheft 2022 des Durchblick erschien mein Beitrag "Heinrich Mink II und VII: ein Puzzlespiel". Spannend war es, das Rätsel um die beiden Männer zu lösen. Ausgehend von der Geschichte von
Katharina Herzog aus Brandau (gebürtig aus Raidelbach, *1927), die mir von ihrem Urgroßvater erzählte, der als Aufseher in der Blaufarbenfabrik Lautern gearbeitet hat. Dieser Heinrich Mink ist verwandt mit den Reichenbacher Minks, die nach den Erinnerungen der alten Dame einst von drei Russen abstammten, die im 18. Jahrhundert nach dem Krieg in Reichenbach blieben und ihren Namen in Mink änderten.

Von unserem Leser August Homburg, der für den Verein Helfende Hände Odenwald Haushaltsauflösungen organisiert, habe ich einen Ordner mit historischen Fotografien des Fürstenhaus erhalten. Er hatte den Ordner bei einer Haushaltsauflösung in Lindenfels vor fünf Jahren entdeckt, im Privathaushalt eines 90jährigen Verstorbenen.

Ernsthofen, - der Name rührt vom Hof des Ernestus, eines angesehenen fränkischen Erstsiedlers - birgt in seiner Ortsmitte ein historisches Wasserschloß. Da es seit vielen Jahren in Privatbesitz ist und nicht besichtigt werden kann, bleibt es meist unbemerkt. Von Claus Klenk erhielt ich nun zahlreiche historische Fotografien, die Sie weiter unten auf dieser Seite finden.

Die älteste Darstellung des Dorfes mit dem Wasserschloß: Ölgemälde von Johann Georg Stockmar aus der Zeit um 1750. Das Gemälde hängt im Jagdschloß Kranichstein. Gernot Scior, Autor des großformatigen Kartenwerks "Die Waldkarte" mit den Spuren fürstlicher Bauten in den Wäldern um Darmstadt, beschreibt in einem Aufsatz in "Der Odenwald" vom März 2009 dieses Bild.

Das Schloß wurde zur Zeit der Gemälde-Entstehung von den fürstlichen Jagdgesellschaften genutzt bis zur Beendigung der Hetzjagden durch Ludwig IX 1768. Die gesamte Geschichte des Schlosses dokumentierte Georg Krügler zur 600-Jahr-Feier von Ernsthofen 1963. Zu finden ist die Festschrift auf der Seite des Ortsbeirates Ernsthofen: www.ernsthofen-modautal.de

Hier sind beide Festschriften hinterlegt:

Darin finden Interessierte neben stimmungsvollen Fotos des Dorfes und der Umgebung wichtige Informationen.

 

Zu den Ernsthofen-Seiten schreibt der Ortsbeirat: "Mit unserer Seite wollen wir Ersthofen ein wenig für uns und Interessierte präsentieren. So  soll unser Ort in der Gemeinde Modautal auch für jene findbar sein , die sich auf dem „Lande“ niederlassen wollen und Ernsthofen ein wenig kennen lernen wollen. Natürlich möchten wir gerne mit der Seite für Ernsthöfer eine Plattform anbieten, auf der man sich informieren und auch mitteilen kann."  

Von Doris Starzinger-Kühl erhielt ich weitere Fotos aus ihrer aktiven Zeit als Ortsvorsteherin (Fotos sind mit StK gekennzeichnet).

 

2008 wird die junge Eiche am Buchteich gepflanzt, rechts der schön geschmückte Osterbrunnen (StK)

Das Team, das alljährlich den Felsenkeller gesäubert und instandgehalten hat, im Jahr 2000 - Fotos StK

 

Grenzgang 2002, im Hintergrund das Schloßtor (StK)

Ersatzgrenzgang am 13.4.2008, da es zum normalen Termin im Januar stark geregnet hat (StK)

Unser Dorf hat Zukunft: an diesem Wettbewerb nahm Ernsthofen 2008 teil. In der Pferdekutsche wurde die Prüfungskommission durch das Dorf gefahren, aber Ernsthofen belegte letztlich unverschuldet nur den 4. Platz, weil der Kommission trotz intensiver Bemühungen keine Besichtigung des Schlosses ermöglicht werden konnte. Das Schloß ist in Privatbesitz.

Gerlinde Schütz in Odenwälder Tracht und Claus Klenk mit seiner historischen Konzertdrehorgel während des Besuches der Kommission (StK)

Das MIAG-Haus in Ernsthofen, einst Erholungsheim der MIAG im Luftkurort Ernsthofen (Foto StK, Infos zur MIAG hier: http://www.seg-ober-ramstadt.de/miag-gelande/historie/), der dicke Schornstein auf dem Gebäude weist darauf hin, daß hier möglicherweise auch Bier gebraut wurde. Im naheliegenden Felsenkeller wurde jedenfalls das Eis zum Kühlen des untergärigen Bieres gelagert, das in den einzelnen Gastwirtschaften gebraut wurde.

 

 

Altes Foto von Ernsthofen, Blick vom Standort Kreisjugendheim zum Petersberg, rechts sind die "zwei Wächter" zu sehen. (Klenk)

  

Die zwei Wächter: links als Fotografie, rechts als Gemälde von Georg Krügler (Klenk). Auf dem Gemälde sehr schön zu erkennen: wie Landwirtschaft früher aussah. Es ist Sommer, die Garben sind säuberlich aufgestellt.

Wie kleinräumig die landwirtschaftlichen Flächen um Ernsthofen 1953 strukturiert waren, erkennt man auf diesem Luftbild (Klenk). Zur Entwicklung der Landwirtschaft von 1750 bis heute lesen Sie auch meinen ausführlichen Beitrag im Jahrbuch 2021: Spinnstubb 2.0 - Kartographie, Eisenbahn, Ultramarin!

Winterspaß in Ernsthofen - Rodeln im Schnee und Ausfahrt mit der Pferdekutsche... (Klenk)

oben und unten: zwei undatierte Postkarten "Luftkurort Ernsthofen i/Odenwald", zugesandt von Dr. Gerhard Stärk, Guntersblum

Ansichtskarte um 1920, heute steht in der Bildmitte die Mittelpunktschule (Klenk).

Das Schloß

Das Wasserschloß mitten in Ernsthofen geht auf eine Zeit zurück, als fränkische Siedler im 8./9. Jahrhundert hierher kamen. Später wurde der Hof zu einer Burg ausgebaut, um das weite Tal der Modau kontrollieren zu können. Auf die ersten urkundlich bekannten Herren Rabenold zu Ernsthoffen im 15. Jahrhundert folgen die Kalbe von Reinheim und die Herren von Wallbrunn. Sie gaben dem Schloß seinen Namen: Schloß Wallbrunn. Mehr dazu findet sich auf Wikipedia.

Die Walbrunner hatten Mitte des 15. Jahrhunderts das Wasserschloß mit den dazugehörigen Dörfern vom Geschlecht der Rabenolt übernommen. 1483 übertrug Hans von Walbrun das Schloß auf den Landgrafen von Hessen als Lehen. 1498 wurde sein Sohn Hans, kurpfälzischer Hofrichter zu Heidelberg, Burggraf zu Starkenburg und Amtmann zu Otzberg, von seinem Stiefbruder ermordet, als er auf dem Rückweg von der Kapelle die Schloßbrücke überquerte.

Es gab auch eine "Schlacht bei Ernsthofen": Hans Adolf von Walbrun, gewalttätig und streitsüchtig, mußte nach einem Gerichtsbeschluß das Schloß an seine Brüder abgeben. Jedoch er weigerte sich und verjagte die Brüder. Auch gegen die Untertanen war er nicht sehr freundlich. Der Landgraf schickte daher 1569 den Keller von Lichtenberg mit hochfürstlichem Handschreiben nach Ernsthofen. Er wolle alle Machtmittel rücksichtslos gegen Walbrun einsetzen. Hans Adolf ließ den fürstlichen Gesandten stundenlang vor der geschlossenen Zugbrücke warten (Quelle: L. Baur, Archiv für hessische Geschichte und Altertumsforschung 8, gefunden in: Neutsch - aus seiner Geschichte, Chronik von Dr. Müller 1949). Er wolle dann in drei bis vier Tagen seine Entscheidung mitteilen. Landgraf Georg reagierte sofort und ließ das Schloß umlegen, mit 200 Pferden für die Geschütze. Hans Adolf versteckte sich in einer Kammer und erschoß sich, wurde aber noch lebendig aufgefunden und starb eine Viertelstunde später.

1586 erprobte der Landgraf sein Öffnungsrecht in aller Form: nach altem Recht mußte der Lehensmann dem Lehnsherrn sofort die Zugbrücke herunterlassen, wenn der es forderte. Antoni und Hans Gottfried von Walbrun fügten sich der Forderung, und der alte Rechtsbruch war damit abgeschlossen.

Verkaufsurkunde aus dem Jahr 1722: die Herren von Wallbrunn verkaufen Dorf und Schloß an Landgraf Ernst Ludwig von Hessen. Links 1. Seite, rechts letzte Seite (Klenk).

Nach der Entvölkerung durch den 30jährigen Krieg wurde die Gegend allmählich wieder besiedelt, auch das Schloß wurde wiederaufgebaut. 1722 schließlich wurde die gesamte Herrschaft (Schloß Wallbrunn, Ernsthofen, Asbach, Hoxhohl, Neutsch, Klein-Bieberau und weitere umliegende Dörfer samt aller Bewohner) an Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt verkauft.

   

Grabmale einstiger Bewohner des Schlosses in der Schloßkirche (alle Schloß-Fotos: Sammlung Claus Klenk)

Um 1920 unterhielt Edmund August Stirn im Wasserschloß, das bis dahin über lange Zeit als Forsthaus und fürstliche Dependance für Jagdgesellschaften genutzt worden war, ein Kinderheim. Die Geschichte Stirns zeichnet sein Urgroßneffe Dr. Gerhard Stärk aus Guntersblum in seinem Beitrag "Schloß Ernsthofen (Odenwald): Die Ära Stirn 1921-1957" vom April 2021 nach. Den Beitrag finden Sie als PDF unten auf dieser Seite.

 

Das Anwesen wurde noch immer landwirtschaftlich genutzt, die Fotos stammen aus der Zeit um 1920 (Klenk).

Plan der Anlagen, aus der Zeit um 1840 (Klenk)

Das Schloß um 1890, die Fotografie links zeigt den Umbau zum Stufengiebel, im Turm (noch ohne Haube) wächst ein Baum; rechts der Innenhof (Klenk)

 

Ansichtskarte um 1920 (Klenk)

Ansichtskarte ca 1920 (Klenk)

Schloßhof um 1920, anstelle der Terrasse stand das ursprüngliche Haupthaus, das jetzige Gebäude war einst ein Wirtschaftsgebäude (Klenk)

Schloßinnenhof von Norden gesehen, um 1920 (Klenk)

Pferdewagen und Automobil im Innenhof des Schlosses, um 1920 (Klenk)

Weiterführende Infos in meinen Jahrbüchern: Das Durchblick-Jahrbuch: Spinnstubb 2.0, sie sind deshalb online nicht zu finden:

  • Das Waldhaus: ein lebendiges Museum
  • Die Wiesen um Ernsthofen 1882

Gernot Scior: "Von Nieder-Ramstadt nach Ernsthofen" und "Ernsthofen wird hessisch" - beides Vorträge, Unterlagen aus der Sammlung Klenk - nicht veröffentlicht

Zeittafel zur Entwicklung des Dorfes Ernsthofen

Georg Krügler stellte zur 600 Jahr Feier eine sehr detaillierte Zeittafel zusammen, zu finden auf den Seiten des Ortsbeirates. Sie beginnt um 3000 vor Christus und endet mit der 1962 erbauten Straße zu den Aussiedlerhöfen.

Ergänzungen zu dieser Seite dürfen gerne jederzeit an die Redaktion geschickt werden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Marieta Hiller, Januar 2022

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Wieder ein spannender Beitrag des Reichenbachers Walter Koepff, seit 50 Jahren als "rasender Reporter" im Lautertal unterwegs. Klar, daß Koepff auch im Redaktionsteam zur Festchronik "50 Jahre Lautertal" mitarbeitet. Hier dokumentiert er die aktuellen Arbeiten am Kirchturm der evangelischen Kirche in Reichenbach:

Zwei Meter fehlten bis zur Kirchturmuhr

Mit einem lokalen Hubsteiger sollten die Zeiger der Reichenbacher Kirchturmuhr von der „Fesselung“ durch die vom Sturm verwehten Kabel der Taubenabwehr befreit werden. Seit einiger Zeit zeigte die weithin sichtbare Uhr nicht mehr korrekt an. Jetzt machte sich eine Fachfirma für Kirchturmuhren daran, den Schaden mit Hilfe eben dieser Steighilfe beheben. Dem Techniker fehlten jedoch gut zwei Meter bis zur Uhr, was aus der Perspektive vom Erdboden aus nicht ganz nachvollzogen werden konnte. Der umlaufende Sims verhinderte ein näheres Heranfahren der Arbeitsbühne. Ein Herunterreißen der ähnlich wie ein Weidezaun funktionierenden Taubenabwehr hätte nur noch größeren Schaden an der Zeitanzeige zur Folge gehabt. Jetzt sollte ein zweiter Versuch mit einem höheren Hubsteiger unternommen werden.

Spannend wurde auch der zweite Versuch, mit einem größeren Hubsteiger die Reichenbacher Kirchturmuhr von den vom Sturm verwehten Drähten der Taubenabwehr zu befreien. War vor 14 Tagen der eingesetzte Hubsteiger zu kurz, um an das Zeigerwerk zu gelangen, so wollte die jetzt eingesetzte Arbeitsbühne sich zunächst nicht nach oben bewegen. Erst als man die eingeschaltete Transportsicherung lösen konnte, stand dem Aufstieg nichts mehr im Wege. Küsterin Tatjana Bauer war sichtlich erleichtert, als der Monteur die Kabel von den Zeigern entfernt hatte. Jetzt wird man hoffentlich in Reichenbach wieder sehen, was die Stunde geschlagen hat.

 

 

Text und Foto: Walter Koepff

Lesen Sie auch: Verborgener Schatz in der Reichenbacher Ev. Kirche

 

Ein Reisebericht von Mick Schäfer, Fotograf. Zu seiner Seite mit weiteren Infos, Ausstellungsterminen und Geschenktipps auf dblt.de kommen Sie hier.

m Herbst war ich in Carrara und wollte zu den Marmorbrüchen in der Nähe, ein Kindheitstraum der endlich wahr wurde...
Ein Geologe den ich dort zufällig traf hat mich mit ins Innere eines Berges genommen. Gradios!!

Wechselvoll ist die Geschichte unserer Heimatregion: Alle hatten ein Wörtchen mitzureden...
... nur die Bewohner nicht...

Vom heiligen römischen Reich Deutscher Nation über das Großherzogtum Hessen-Darmstadt zum Bundesland Hessen; vom Katholizismus zum reformatorischen, lutherischen oder evangelischen Glauben - die Wechsel im Odenwald fanden oft mehrmals innerhalb weniger Generationen statt. Die Einwohner, damals noch Untertanen genannt, hatten stets die Religion ihrer Herrschaft anzunehmen. Noch bis 1813 herrschte die Leibeigenschaft. Man konnte nicht einfach heiraten wen man wollte und nicht dorthin ziehen wo es einem gefiel.

Als ich mich mit verschiedenen Menschen unterhielt auf der Suche nach Hintergrund-Infos zur Blaufarbenfabrik Lautern, zum Kupferbergwerk Reichenbach oder zum Modautal-Eisenbahnbau, war ich auch zu Gast bei einer 94 Jahre alten Dame, die aus Raidelbach stammt. Sie hat ein Familienbuch, in das sie alle Geburten und Sterbefälle einträgt. So konnte sie mir über ihren Urgroßvater Heinrich Mink (*um 1850) berichten, der ab 1880 als Aufseher in der Blaufarbenfabrik tätig war. Das hatte ihr eine Großtante erzählt, die Direktorin der Bensheimer Post war und nach der Devise lebte „Wenn man so [vornehm] nicht essen will, kann man ja gleich zu den Kühen im Stall gehen“. Sie war recht vornehm, täglich kam das gute Geschirr auf den Tisch, sie trug immer gepflegte Kleidung, und die Schürze wurde nicht angezogen, sondern vorgelegt.
Heinrich Mink ist verwandt mit den Reichenbacher Minks, die nach den Erinnerungen der alten Dame einst von drei Russen abstammten, die im 18. Jahrhundert nach dem Krieg in Reichenbach blieben und ihren Namen in Mink änderten.

„Man kann ja keins mehr fragen“

Da die alte Dame gerne ohne Namensnennung bleiben möchte, nenne ich sie K.
Ihre Mutter Margarethe stammt aus Gadernheim und ist als uneheliches Kind in der Villa der Blaufarbenfabrik Lautern geboren. Später heirateten die Großeltern von K. aber doch noch, obwohl der Philipp dem Urgroßvater Heinrich Mink nicht gut genut war. Margarethe und Philipp hatten viele Kinder. Philipp stammt aus Bayern, war orthopädischer Schuhmacherr und starb 1935. Drei Jahre später starb seine Schwiegermutter, die Urgroßmutter von K. und Ehefrau von Heinrich Mink.

Vor dem 1. Weltkrieg kamen viele Steinhauer aus Bayern, weil dort große Arbeitslosigkeit herrschte, so weiß K. zu erzählen.

K. brachte als Zehnjährige, also um 1937, dem Vater jeden Tag das Mittagessen zum Hohenstein. Der Vater arbeitete drei Jahre „am Kunkelmann“ und brachte den Kindern immer grüne und blaue Steine mit. K.s Bruder war der in den 1980er Jahren bei uns Jugendlichen sehr beliebte Dreschers Adam, wo wir am Wochenende immer Ebbelwoi und Flaschenbier getrunken haben. Eine Schwester von K. lebt noch, sie ist 97 Jahre alt.

K.s erster Mann war ein Götzinger, er war 35 Jahre älter als sie und während des Krieges Ortsbauernführer in Raidelbach. Sein Hof hatte 94 Morgen Feld. Im Krieg war er lange inhaftiert: beim Fliegerabschuß am Hohberg Elmshausen landete ein junger Soldat mit dem Fallschirm auf dem Heidenberg, Götzinger und sein Nachbar brachten ihn zur Verwaltung im Rathaus Gadernheim. Da der Soldat aber Blut im Schuh hatte, wurde Mißhandlung durch die beiden Raidelbächer unterstellt. Erst nach 28 Monaten wurden die beiden durch den jungen Soldaten entlastet und entlassen. Da war seine 1. Frau schon ein Jahr tot, und er selber verstarb nicht lange nach der Heirat mit K. 1954.

1960 zog K. nach Brandau und heiratete erneut, einen Flüchtling aus dem Böhmerwald. Er starb mit 53 Jahren.

K. war Zeit ihres Lebens arm und sagt nun mit 94 Jahren doch von sich, daß es ihr nie so gut gegangen ist wie jetzt. Sie ist rüstig, putzt und kocht selbst, strickt wunderschöne gemusterte Sachen, und ißt sehr viele gekochte Eier. Sie hatte in ihrem Leben 26 Putzstellen, ließ sich aber nicht selbst zum Putzlumpen machen, das ließ ihr Stolz nicht zu.

„Der Wohlstand hat uns Haß Neid und Streit gebracht...“

Manch einer schafft es, seine Spuren zu verwischen: so war von einem Lithographen des 19. Jahrhunderts bislang kaum mehr als der Name van Hove und der Arbeitsort Offenbach bekannt. Spannend ist  im Beitrag von Johann Heinrich Kumpf (derselbe, der auch das Buch des Dr. Klein von 1754 neu herausgab) dargelegt, wie die Vornamen des geheimnisvollen van Hove ans Licht kamen. Noch spannender aber ist die Geschichte, wie früher mit dem geistigen Eigentum anderer umgegangen wurde: „Abkupfern“ nennt man das auch. Abkupfern kommt aus dem Druckwesen: ein Autor fertigte zunächst eine Zeichnung oder Skizze an, die anschließend vom Kupferstecher zu einer Druckplatte gemacht wurde: seitenverkehrt stach der Kupferstecher alle Linien nach, danach konnten von der Platte beliebig viele Abzüge gedruckt werden. „Mein lieber Freund und Kupferstecher“ war also jemand, der Plagiate anfertigen konnte, Abzüge ohne Copyright.

"gekocht - gebacken - gezuckert - gezaubert" - so heißt der Küchenknigge für junge Frauen aus den 1960er Jahren.

Hausfrauen leisten noch immer mehr als alle Arbeitnehmer zusammen: 40 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr (alle Frauen in Deutschland zu jener Zeit zusammen). Mit dieser reißerischen Zahl macht das schmale Büchlein auf und fährt fort: "eine natürliche ausgewogene Ernährung trägt entscheidend dazu bei, gesund und schlank zu bleiben."

Herbstfund: als die hohen Brennesseln am Wegrand abgestorben sind, tauchte - wie jedes Jahr - dieser zerbrochene Grabstein wieder auf: ein Mahnmal für unsere Vergänglichkeit, aber auch  Zeugnis für die einst rege Steinbearbeitungsindustrie vor Ort. Trotzdem bleibt das Gefühl: dieser Stein an diesem Ort ist pietätlos der Verstorbenen gegenüber.

Heute rechnet man für den Bau von Autobahnen  etwa zehn Millionen Euro pro Kilometer.

Im alten Rom (2. Jahrh. n. Chr.) rechnete man für eine Meile (1500m) 100.000-500.000 Sesterzen*. Für den Bau wurden Soldaten eingesetzt, die so in Friedenszeiten nicht auf dumme Gedanken kamen. Auf diesen Straßen durften nur Diplomierte reisen: Gesandte mit einem zeitlich begrenzten Erlaubnisschein. Entlang der 6-14 Meter breiten Straße gab es Raststätten. Fußgänger mit Gepäck schafften täglich 30-40 km, privilegierte Reiter 60-80 km, mit Pferdewechseln bis zu 300 km.